positive-stimmen outen HIV-bedingte Stigmatisierung

November 28, 2012

2011/2012 wurden im Projekt positive stimmen 1148 Menschen mit HIV in Deutschland zu ihren Erfahrungen mit HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierung befragt. Nun liegen die Ergebnisse vor – und damit zum ersten Mal umfangreiche und aussagekräftige Daten zur Situation von HIV-positiven Menschen in Deutschland.

Hier mein Vorwort als Projektbeirat in der Projektdokumentation

Menschen mit HIV wissen heute, dass die HIV-Infektion gut behandelbar ist. Dank wirksamer Therapien können sie oft mit einem langen Leben und stabiler Gesundheit rechnen. Sie wissen um den möglichen Effekt einer wirksamen Therapie, HIV beim Sex nicht mehr übertragen zu können. Die HIV-Infektion hat einen Bedeutungswandel erfahren und das Selbstbild von Menschen mit HIV verändert sich grundlegend: HIV-Positive sind HIV-Negativen in zentralen Aspekten wieder gleicher geworden. Man sollte meinen, dass damit auch die Stigmatisierung und Diskriminierung auf Grund von HIV abgenommen hätte.

In der Gesellschaft ist das Wissen um die veränderte Lebenssituation von Menschen mit HIV aber nicht ausreichend angekommen. Ein unaufgeregter Umgang mit HIV-Positiven kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden: HIV löst Stress, Angst und eine Verunsicherung aus, die erklärt und aufgeklärt werden muss.

Trotz Therapiefortschritten bleibt HIV eine Infektionskrankheit, die mit Sexualität, Drogenkonsum und von der bürgerlichen Norm abweichenden Lebensstilen verknüpft ist. Zusammen mit irrationalen Ansteckungsängsten bildet dies den Nährboden für Stigmatisierung und Diskriminierung.

Als Teil einer globalen Befragung haben im Projekt „Positive Stimmen“ Menschen mit HIV die Realität in Deutschland im Jahr 2011/2012 selber erforscht. Von ihnen wurden 1148 standardisierte Interviews mit anderen HIV-Positiven geführt. Für viele Interviewte ergab sich darüber erstmalig die Gelegenheit, frei über ihre belastenden Erlebnisse zu erzählen.

Die Ergebnisse fordern dazu auf, Menschenrechte für Menschen mit HIV in Deutschland umfassender zu verwirklichen. Unsere Gesellschaft als Ganze steht in der Verantwortung, dieses Ziel zu erreichen.

Wir danken allen Menschen mit HIV, die sich im Projekt „positive stimmen“ engagiert haben. Ebenso herzlich danken wir Caroline Vierneisel, die mit ihrem großartigen Engagement als Projektkoordinatorin in der Deutschen AIDS-Hilfe wesentlich zum erfolgreichen Abschluss der Befragung beigetragen hat.

Michael Jähme

Projektbeirat „positive stimmen“

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Projektdokumentation “positive stimmen verschaffen sich gehör!” als pdf  (Die Printausgabe ist leider schon vergriffen.)

Ein globales Projekt: The People Living with HIV Stigma Index


„Wen therapieren wir hier eigentlich?“ – Ein intergenerativer Dialog zum Leben mit HIV

März 5, 2012

Marcel Dams (21), Jungpositiver aus Essen, und der seit 21 Jahren infizierte Michael Jähme (52) aus Köln schreiben beide in einem eigenen Blog über das Leben mit HIV (teilzeitblogger.wordpress.com und termabox.wordpress.com). Sie trafen sich in Köln zum Gespräch der Generationen. Birgit Schreiber moderierte.

 

Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt?

Michael: Im Internet, beim Bloggen. Marcel hat einen Satz von mir zitiert.

Marcel: Ja, der lautete ungefähr so: „Es liegt an dir, welche Bedeutung du HIV in deinem Leben geben willst. Lass dir von den anderen nichts vorschreiben.“

Michael: Ich war fasziniert, dass jemand mich zitiert, noch dazu ein so junger Mensch. Und ich fand es toll, dass jemand aus der jungen Generation so powert. Ich blogge erst seit 2007. Da war ich schon 17 Jahre positiv.

Marcel: Eine seltsame Vorstellung – als ich geboren wurde, hast du dich infiziert.

Michael: Stimmt. In deinem Alter hätte ich mich damals nie getraut, so offen über HIV zu sprechen und mich so angreifbar zu machen.

Marcel: Wir haben heute viel mehr Freiheiten. Es ist viel einfacher, im Netz und im Privatleben zu sagen, ich bin schwul.

Michael: Ich bin in eine Zeit hineingeboren, in der Schwulsein durch den § 175 noch unter Strafe stand. Das hängt mir nach, macht mich und andere meines Alters vielleicht misstrauischer. Und ich war bürgerlich sozialisiert. Mein Coming-out hatte ich mit 26. Ich war schon immer politisch und selbstbewusst, aber erst mit EKAF wurde ich ein Tabubrecher – auch in den Augen meiner Kollegen der Aidshilfe. Ich hatte den Eindruck, man traute den Positiven einfach nicht zu, mit der Botschaft angemessen umzugehen. Das fand ich diskriminierend und empörend. Und es war wichtig, dass HIV-Positive da Druck gemacht haben. Heute kann ich in dem anfänglichen Zögern der DAH, das EKAF-Statement offensiv zu unterstützen, auch etwas Ehrenwertes sehen – man wollte ganz sicher sein und keine unkontrollierbare Diskussion losbrechen.

Marcel: Als ich von EKAF schließlich erfuhr, habe ich mich gefragt, ob der Öffentlichkeit da was verschwiegen worden ist. In einem Blog habe ich später von meinem Recht auf kondomlosen Sex geschrieben, und es gab viele wütende Reaktionen. Die Leute warfen mir vor, ich würde Sex ohne Kondom propagieren. In Wirklichkeit plädiere ich für individuellen, verantwortungsvollen Umgang mit den verschiedenen Möglichkeiten des Safer Sex. Und das kann heute eben auch Sex ohne Kondom sein.

Michael: Wie gehst du damit um, wenn Leute aggressiv auf deine Meinung reagieren?

Marcel: Online verkrafte ich Widerspruch gut. Manchmal kriege ich fünf Schmähmails am Tag. Bestürzt war ich, als ich einen echten Brief im Postkasten zu Hause fand. Darin stand: „Du musst gestoppt werden, die Vorbereitungen sind im Gange.“ Zum Glück war das eine einmalige Sache.

 

Wie seid ihr beide zum Bloggen gekommen?

Marcel: Die Diagnose „HIV“ war für mich ein Schock. Ich konnte nichts fühlen, nur Ekel vor meinem Körper. Ich zog mich zurück. Dann sagte ein Psychologe zu mir, Anfeindungen seien weniger gefährlich, wenn ich mich selbst akzeptieren könne. Da hat es Klick gemacht. Ab jetzt wollte ich mich nicht nur akzeptieren, sondern viel, viel mehr. Doch im Internet, in dem junge Leute ja gern unterwegs sind, hatte ich bislang nur von Langzeitpositiven gelesen. Und Urteile über HIV-Positive wie „Schwulenkrankheit“, „unmoralisch“ oder „selber schuld“, die ich in manchen Foren fand, machten mich wütend. Dem wollte ich was entgegensetzen. Im Bloggen fand ich dann einen passenden Weg, mich zu engagieren und auch jungen Infizierten eine Stimme zu geben.

Michael: Ich habe 2007 zu bloggen angefangen und entdeckt: Manchmal ist Schreiben sehr heilsam, man lernt sich und seine Positionen besser kennen. Das ist gut für das Selbstwertgefühl. Beim Bloggen tue ich also etwas für mich und meine Lebensqualität. Ich frage mich allerdings, wen wir mit unseren Blogs mehr therapieren: uns selbst oder die Gesellschaft, die ihre Ängste über uns auskippt. Vieles, was menschlich ist, wird verdrängt und auf uns abgeschoben.

Marcel: Angst und Verdrängung gibt es auch unter Positiven. Als ich gerade erfahren hatte, dass ich positiv bin, hat mir ein älterer Infizierter gesagt: „Am liebsten würde ich dich jetzt ohrfeigen, weil du dich angesteckt hast.“ Für mich war das sehr, sehr schlimm. Enttäuschend war für mich auch, dass die Leute bei der Aidshilfe so wenig verständnisvoll waren und mir nichts zutrauten. Als ich eine Gruppe für Jungpositive aufmachen wollte, musste ich dafür kämpfen. Dabei heißt es doch immer, die Jungen sollen sich engagieren.

Michael: Ja, viele Ältere trauen den Jungen nichts wirklich zu. Das ist nicht meine Haltung. Ich bin sehr neugierig, wie jüngere Schwule – oft mit weniger emotionalem Ballast – die Dinge anders machen. Deshalb mache ich wirklich gerne Platz. Wenn ich demnächst in Teilrente gehe und meine Arbeitszeit reduziere, hoffe ich, dass die frei werdenden Stunden mit einem jungen Sozialarbeiter besetzt werden, der Bereiche wie Prävention und Öffentlichkeitsarbeit übernimmt. Ich glaube, dass gerade die jungen Mitarbeiter die Potenziale der neuen Medien für die Aidshilfen nutzbar machen können. Wir brauchen auch jüngere Mitarbeiter als Identifikationsfiguren, die das Lebensgefühl der jüngeren Generation besser kennen.

Marcel: Junge Berater sind auch deshalb wichtig, weil man manche Themen am besten mit Gleichaltrigen klärt: die Probleme am Arbeitsplatz, in der Schule, Prüfungen. Aber ich lerne auch gerne von älteren Infizierten.

Michael: Ich erwarte nicht, dass die jungen Leute mich und andere meines Alters verstehen. Man kann sich doch nie wirklich vorstellen, wie es ist, wenn man älter ist. Aber gerade deshalb möchte ich mit den jungen Positiven wie Marcel im Gespräch bleiben. Und ich würde gern mal deine Eltern kennenlernen, die da so einen reflektierten jungen Mann großgezogen haben.

Marcel: Ich selbst bin noch immer sehr beeindruckt von der Vorarbeit und der Radikalität der Langzeitpositiven. Ihr habt damals die Öffentlichkeit sehr provoziert.

Michael: Wir hatten den Tod vor Augen und nichts mehr zu verlieren. Ihr seid heute in einer ganz anderen Situation: Wenn ihr euch outet, werdet ihr das euer ganzes Berufsleben nicht mehr los. Andererseits: Die Infektion zu verschweigen und 40 Jahre zu fürchten, euer Geheimnis könnte enthüllt werden, ist auch keine Perspektive.

Marcel: Das war ein Grund, weshalb ich so öffentlich positiv bin. Das habe ich nie bereut. Seit ich bei IWWIT mitmache, komme ich mit so vielen Menschen ins Gespräch. Und ich freue mich schon auf die Kampagne zum Welt- Aids-Tag 2011, da bin ich dieses Jahr dabei.

Michael: Mir liegt ein Projekt am Herzen, zu dem die Kampagne vom letzten Jahr besonders gut passt – das Motto hieß ja „Positiv zusammen leben“. Denn ich finde, Langzeitpositive wie auch ihre Angehörigen brauchen mehr Möglichkeiten zur Biografiearbeit, mehr Raum für Gespräche. Kränkungen und Verletzungen haben bei manchen seit 20, 25 Jahren Spuren in der Biografie hinterlassen. Und sie müssen Scham- und Schuldgefühle bewältigen, um nicht depressiv zu werden. Es ist auch wichtig anzuerkennen, was man in schwierigen Zeiten durchgestanden hat und wo es persönliche Erfolge gab.

 

Wie habt ihr mit der HIV-Infektion leben gelernt?

Michael: Ich hatte recht schnell wieder eine gewisse Unbefangenheit dem Leben gegenüber gewonnen. Mir hat da einfach geholfen, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Und im Älterwerden habe ich begriffen, dass niemand von uns unschuldig durchs Leben kommt. Seit ich mir nicht mehr vorwerfe, dass ich mich mit HIV angesteckt habe, spielt die Infektion eine weniger belastende Rolle. Ich bin sogar stolz darauf, dass ich damals überhaupt wagte, offensiv und sexuell schwul zu leben, denn die Angst vor einer Ansteckung mit HIV hatte mein Coming-out verzögert. Heute weiß ich: Das Leben gibt es nicht ohne Risiko. Ich wollte lebendig sein und etwas erleben, auch um den Preis der Infektion.

Marcel: Bei mir nimmt HIV manchmal noch viel Raum ein. Zum Beispiel hatte ich bis vor wenigen Monaten noch recht viele körperliche Probleme. Erst seit Beginn der medikamentösen Therapie geht es mir wieder besser. Wichtig ist für mich vor allem, ob die Infektion in meinem Leben eine gute oder schlechte Rolle spielt. Und da stelle ich fest: Ich habe auch viel gelernt, seit ich infiziert bin, habe viele Menschen kennengelernt. Und ich bin viel reifer geworden, habe begriffen, wie verletzlich das Leben ist. Krankheiten gehören für mich mittlerweile zum Leben dazu.

 

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Marcel: Dazu habe ich vor kurzem in meinem Blog Folgendes geschrieben: Ich kann heute nicht wissen, wie mein Leben in zwanzig, dreißig Jahren aussieht. Es kann noch so viel passieren. Hauptsache, ich bin dabei glücklich und akzeptiere mich.

Michael: In Zukunft soll HIV in meinem Leben weniger Raum einnehmen. Privatleben, Sport, Freunde sind jetzt dran. Da ist allerdings doch noch ein Projekt, das mich reizt: Ich würde gern die Biografien von Langzeitpositiven auf Video oder Audio dokumentieren. Dazu habe ich Lust und vielleicht auch bald die Zeit.

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Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in „Annäherungen – Ein Lesebuch zur Arbeit in Aidshilfen“, ab S. 31, Deutsche AIDS-Hilfe 2012. (pdf)

Das Lesebuch kann als Broschüre kostenlos bei der DAH bestellt werden: Bestellnummerr: 027010

Vielen Dank an die DAH für die Genehmigung zur Übernahme des Interviews in meinem Blog.


Respekt für den 21-jährigen HIV-positiven Marcel

Dezember 1, 2010

Seit bald einem Jahr kenne ich Marcel, der sich im Alter von 20 Jahren mit HIV infizierte und sich wenige Monate später im November 2009 mit HIV outete. Marcel zeigt, dass man mit HIV auch offen und ohne sich zu verstecken leben kann.

Diesen Blogbeitrag zu meinen 21. Welt-AIDS-Tag in diesem Jahr 2010 – wo sich u.a. meine eigene HIV-Diagnose zum 20. Mal jährte – widme ich Marcel stellvertretend für alle jungen HIV-Positiven – und poste dieses dbna-Videointerview mit Marcel.

Für dbna hat Marcel jetzt ein Interview gegeben, in dem er unter anderem gefragt wird:

Was hat dich dazu bewogen, dein Blog zu starten?

Marcel: Ich habe selbst im Internet nach Informationen zum Thema gesucht. Da stößt man dann beispielsweise auf die Seiten der Deutschen Aidshilfe. Das ist aber alles sehr theoretisch. Dann gibt es ein, zwei Blogs von Betroffenen, die sind aber schon über 40 Jahre alt. Ich finde es gut, dass sie das machen. Aber ich kann mich selbst damit nicht identifizieren. Ich hab nie was von oder über junge Leute gefunden. Das wollte ich ändern. Ich merke natürlich, dass ganz viele junge Leute über YouTube oder das Blog auf mich stoßen und sich dafür interessieren. Das wäre vielleicht nicht der Fall, wenn es niemanden wie mich geben würde.

Respekt und Kompliment für Marcel.

Viel Glück mit allem, was Du tust!


Mein Leben mit HIV ist ein Schatz an Erfahrungen

Juni 28, 2010

Älterwerden mit HIV als schwuler Mann: Mit diesem Thema beschäftigt sich Michael Jähme von der AIDS-Hilfe Wuppertal seit längerer Zeit. In Fresh spricht er über seine persönlichen Erfahrungen.

Warum treibt Dich dieses Thema so an?

Ich bin jetzt 51 Jahre alt. So alt zu werden hatte ich mir nie vorstellen können. Lange ging es darum, einem überlebten Jahr ein weiteres überlebtes Jahr hinzuzufügen. Aber inzwischen bieten die wirksamen Therapien große Sicherheit. Einfach nur zu überleben, reicht mir als Lebenssinn nicht mehr. Erst seit wenigen Jahren, wo die Angst, bald krank zu werden, ganz verschwunden ist, kann ich erstaunt Rückschau halten und anfangen zu verstehen, was ich da eigentlich überlebt habe, was alles passiert ist und was diese Erfahrungen und Erlebnisse mit mir gemacht haben. Schließlich habe ich meine Diagnose zu einer Zeit bekommen, als die AIDS-Hysterie sehr bedrohlich war. Ich möchte verstehen, was in diesen Jahren passiert ist und möchte meinen Erlebnissen Bedeutung geben. Für mich ist das nötig, um nicht nur körperlich, sondern auch psychisch gesund alt zu werden mit HIV.

1990 hast Du Deine Diagnose bekommen, Du lebst also bereits 20 Jahre mit HIV. Gibt es nach wie vor staunende Blicke, wenn Du Dich als Langzeitpositiver zu erkennen gibst?

Ja, das ist so. Besonders bei TeilnehmerInnen von Fortbildungsveranstaltungen für Krankenpflege und Altenpflege erlebe ich ein Erstaunen, dass man inzwischen mit HIV alt werden kann. Dann ist das Interesse sehr groß, mehr über die medizinischen Therapiefortschritte zu hören. Und auch dass eine wirksame Therapie zur Folge hat, quasi nicht mehr infektiös zu sein, überrascht viele. Viele sagen dann: Das muss mehr bekannt gemacht werden!

In Gesprächen mit schwulen Männern die heute so um die 40-50 Jahre alt sind, hast Du viele „HIV-typische Spuren“ in deren Biographien registriert, die auch seelische Narben hinterlassen haben. Was sind Deine Traumata und Narben?

Es ist einfach ein Trauma, jahrelang die Unsicherheit aushalten zu müssen: Wie lange überlebe ich? Wie lange geht es gut? Wie lange bleibe ich gesund? Bei aller Emanzipation und allem Lebenswillen war diese Angst vor dem Tod doch knallharte Realität. Die jahrelange Todesbedrohung durch HIV hat chronisch am Selbstwertgefühl genagt. Es ist so unfassbar, dass wir das überlebt haben und heute die Zeit wirksamer Therapien erleben! Mich schmerzt der Tod von Freunden, die mir heute als Weggefährten im Älter-Werden fehlen. Und für die Gesellschaft waren wir HIV-Positiven bestenfalls geduldet, nie voll akzeptiert. Die bis heute andauernden Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen von Menschen mit HIV sind ungeheuerlich und empörend. Dazu kommt noch die immer latent vorhandene Homophobie in der Gesellschaft. Es ist einfach anstrengend, über Jahre hinweg dem allen Widerstand zu leisten und sich zu behaupten. Es empört mich, dass die Lebensleistung meiner Generation schwuler Männer nicht breit gesellschaftlich gesehen, gewürdigt und anerkannt wird!

Beim Umgang mit den belastenden Erlebnissen entwickelt jeder seine individuelle Strategie. Welchen Weg der Verarbeitung bist Du gegangen?


Mein Weg ist es, über das zu reflektieren, was mein Leben beeinflusst hat und was mich geprägt hat. Es ist eine schmerzhafte Wahrheit, dass HIV so viel Traurigkeit und Angst ins Leben gebracht hat. Es braucht Zeit, sich dessen bewußt zu werden. Und Mut. Seit längerer Zeit mache ich eine Psychoanalyse, in der ich das alles nach und nach entdecke und wo ich Unterstützung erlebe und Raum bekomme, dies entdecken zu können. Zum psychisch gesund alt werden mit HIV gehört für mich, all diese schrecklichen, schmerzhaften und kränkenden Erlebnisse beim Namen zu nennen und von meinem Gegenüber Verständnis und ein offenes interessiertes Ohr zu erfahren. Wir müssen über die wirklich wichtigen Dinge in unserem Leben reden. Dann versteinern wir nicht in unseren Traumata und Schmerzen, sondern öffnen uns großer Lebendigkeit, Lebensfreude und Lebenskraft.

Du forderst: Schwule Senioren, mit HIV und ohne HIV, sollen als Zeitzeugen angesehen und anerkannt werden und sich auch selber als solche begreifen. Was konkret ist dafür von wem zu tun?


Die Schuldzuweisungen müssen aufhören, die Stigmatisierung und Diskriminierung muss aufhören! Wertschätzung und Würdigung ist Voraussetzung dafür, dass Menschen, die wie ich nun schon Jahrzehnte mit HIV leben, einen offenen Raum vorfinden, um von ihren Erlebnissen erzählen zu können, wenn sie es denn wollen. Das ist eine Forderung an die Gesellschaft. Dann gibt es etwas, was jeder Einzelne tun kann: Wir Zeitzeugen haben etwas erlebt, was lohnt, im gesellschaftlichen Gedächtnis zu erhalten. Unsere Erfahrungen sind ein Schatz. Wir Langzeitpositiven und schwulen Senioren müssen uns dessen bewußt werden. Aus Bewußtsein kann Selbstbewußtsein entstehen. Und dann wären wir auch eher bereit, als Zeitzeugen sichtbarer werden. Vielleicht wäre es für manchen auch immer noch ein Outing mit HIV, für das man Mut braucht. Von uns muss die Bereitschaft kommen und von außen muss das Interesse kommen.

Dieses Interview mit Michael Jähme führte Christian Scheuß für das Magazin FRESH. Es wurde veröffentlicht in der Ausgabe Juli 2010. Hier als Blogbeitrag die ungekürzte Fassung.

Siehe auch: Langzeitpositive und schwule Senioren sind Zeitzeugen vom Leben mit HIV


Älter werden mit HIV – Publikationen 2010 + 2011 (akt.)

März 12, 2010

Aktuelle Veröffentlichungen aus den Jahren 2010 und 2011 , die sich vor allem mit den sozialen und persönlichen Aspekten des “älter werden mit HIV” befassen. Diese Sammlung wird laufend aktualisiert.

deutschsprachige Veröffentlichungen:

06.03.2010 „Langzeitpositive und schwule Senioren sind Zeitzeugen vom Leben mit HIV“ – Vortrag von Michael Jähme auf den 13. Münchner AIDS-Tagen

11.03.2010: Zeit-Online „Die Überlebende – Sex, Drogen, Rock’n’Roll: Die Sängerin Patti Smith hat alle Extreme überstanden. Aber wie?“ von Christoph Amend

24.03.2010: evangelisch.de „Alt werden mit HIV: Nicht mit dem Alter gerechnet„- von Natalia Matter

28.04.2010: termabox „Plädoyer für eine Kultur wahrhaft humaner Solidarität mit HIV-Positiven

30.06.2010: Stern „22 Jahre mit HIV: Wie geht es Heidemarie Kremer heute?

19.07.2010 mdr-Radiointerview mit Filmemacher Michael Stock: „Man kann heute durchaus mit HIV alt werden“

25.07.2010: faz.net „Auch HIV-Infizierte können statistisch uralt werden“ – von Hildegard Kaulen

17./18.09.2010 Kongress „HIV im Dialog“ Schwerpunktthema: „Älter werden mit HIV“ (viele gehaltene Vorträge werden später im Archiv der webseite eingestellt)

10.2010: HIV&MORE: „HIV-Positive altern schneller„, Bericht vom 1st INTERNATIONAL WORKSHOP ON HIV & AGING, BALTIMORE, 4.-5. OKTOBER 2010

01.12.2010 Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag: „Alt werden mit HIV – Eine Betroffene erzählt“ – von Kay Müller

20.12.2010 Der Tagesspiegel: „Geschenkte Jahre“ – von Udo Badelt

11.01.2011: DAH, life+ Magazin zur Konferenz Positive Begegnungen 2010, (pdf) darin u.a.: Geschichte wirdgemacht (S.7), Keine Rechenschaft für Leidenschaft (S.12), Jede Generation hat anders HIV (S.24)

17.01.2011: Süddeutsche Zeitung, „Ich lasse mich nicht abdrängen“ – von S. Sälzer

28.01.2011: RP-online: „Alt werden mit dem tödlichen Virus“ von Jutta Laege

2011 Aidshilfe Köln / MED-INFO: „Länger leben – älter werden mit HIV“ (In dieser Broschüre wird der Zusammenhang zwischen HIV-Infektion, HIV-Behandlung und Alterungsprozessen erklärt.)

07.06.2011: Hannoversche Allgmeine (HAZ) : „Aids-Infizierte zeigen ihr Gesicht auf Stadtbahn inHannover“ – von Stefanie Nickel

05.11.2011 „Unsere Geschichte sind unsere Geschichten“ – von Michael Jähme (Vortrag auf der Präventionskonferenz der DAH 2011)

englischsprachige Veröffentlichungen:

thebody.com: Liste v. Basisartikeln zu „Ageing & HIV/Aids“

thebody.com: Liste v. Beiträgen: „Ageing with HIV/AIDS Research“

22.02.2010: aidsmap: „Many patients diagnosed with HIV today will have normal life expectancies, European studies find„- von Gus Cairns

10.03.2010: thebody.com: „An interview with Gary“ – von Olivia Ford

00.03.2010: thebody.com: „Twenty-Nine Years of Woman living With HIV: Past, Present and Future“ – von Terri L. Wilder

01.04.2010: dcagenda: What happened to silence = death? – von David Mixner

2010: HIV -Training and Ressource Initiative: „Coming of Age – a guide to ageing well with HIV“ – von Mike Youle und Gabrielle Murphy

04.01.2011: University of California: „As HIV population grows older, diseases of aging a new dilemma“ – von Andy Evangelista

14.02.2011: thebody.com: „The Long-Term Survivor Dilemma“ – von Nelson Vergel

30.05.2011: „Older AIDS survivors face new challanges“ – von Hannah Dreier

16.11.2011: „Ageing with HIV: attitudes and experiences of gay men shaped by length of diagnosis“ – von Michael Carter

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Publikationen aus dem Jahr 2009 hier

Publikationen vor 2009 hier


Realitätsabgleich: HIV-Alltag mit mehr Normalität

Dezember 20, 2009

Gegen den Strich gebürstet und erfrischend quergedacht liest sich Stefan Jäkel in dem Interview, dass er für die Sonderbeilage des Magazins „Siegessäule“ zum Welt-AIDS-Tag 2009 gab.

Hier eine kleine Passage:

SIS: Fehlen uns „positive“ Vorbilder?

Ja, Leute, die deutlich machen, dass ein normales Leben mit HIV möglich ist. Dabei geht es nicht nur um Promis, sondern um Sichtbarkeit in Freundeskreisen, Vereinen, Arbeitsverhältnissen.
Ich kann jeden verstehen, der für sich entscheidet, sich in bestimmten Situationen nicht zu outen. Und das Erwerbsleben ist mitunter ein sehr sensibler Bereich. Aber jemanden generell davon abzuraten, dann bringt man ihn/sie vielleicht auch um eine Chance für einen offenes und selbstverständliches Leben mit HIV. Auch hier präferiere ich die individuelle Lösung. Für gesellschaftliche Veränderungen braucht es allerdings mehr Leute, die sichtbar sind. Denn Veränderungen passieren durch persönliche Bezüge, Geschichten und Bilder. Individuell kann jeder schauen, ob mit einem HIV-positiven Coming-Out nicht auch ein Benefit verbunden wäre: weniger Stress, Anerkennung erfahren. Die Krankheitsbewältigung kann auch als Ressource für sich und für andere verstanden werden. Offen lebende HIV-Positive können manchmal ein großes Potenzial an sozialer Kompetenz mitbringen.

Das vollständige Interview mit Stefan Jäkel ist nur online zu lesen.

Die Redaktion der Siegessäule meint:

… Ein offener Umgang mit der Krankheit ist selbst in Berlin oft keine so einfache Sache. Umso mutiger ist es, dass sich zehn Berliner bereit erklärt haben, uns von ihrem Leben mit HIV zu erzählen.
Die Onlineredaktion der Siegessäule hat ein umfangreiches Dossier zum Weltaidstag 2009 erstellt. Auf den folgenden Seiten stehen die kompletten Interviews bzw. Porträts der offen HIV-Positiven, Meinungen von Expertinnen und Experten sowie eine Auswahl an Veranstaltungen.

Dossier, die Interviews und das download der Printbeilage finden sich hier.


„Ich erlebe mich nicht mehr als todgeweiht“

November 30, 2009

Michael Jähme ist seit 20 Jahren mit HIV infiziert. Nicht die Krankheit sieht er heute als Hauptproblem, sondern die Ausgrenzung. Michael Jähme will mit seiner Lebensfreude Mut machen. Auch zur Offenheit im Umgang mit HIV. Erik Schweitzer von der Westdeutschen Zeitung (WZ) sprach mit ihm aus Anlass des Welt-AIDS-Tags am 1. Dezember.

WZ: Welche Botschaft wollen Sie am Welt-Aids-Tag vermitteln?

Michael Jähme: Dass sich das Leben mit HIV radikal geändert hat. Die Öffentlichkeit hat noch ein Bild von HIV, das aus der Steinzeit stammt, geprägt vom Leiden und Sterben. Ein Film wie „Philadelphia“ wird leider immer noch an Schulen gezeigt. Und die Aidshilfe ist geprägt vom TV-Spot mit Hella von Sinnen – „Rita, was kosten die Kondome?“ Das hat sich eingebrannt, auf dem Niveau sind viele stehengeblieben.

Ist HIV denn keine tödliche Krankheit mehr?

Jähme: Nein. Ich lebe doch noch.

Viele Menschen leben mit tödlichen Krankheiten.

Jähme: Warum nur denkt man ausgerechnet bei HIV immer vom Ende her? Das macht man bei keiner anderen chronischen Erkrankung. Dabei ist HIV genau das: eine chronische Erkrankung. Man kann lange damit leben, hat fast eine normale Lebenserwartung. Man könnte auch sagen: Diabetes ist tödlich, oder Asthma oder Neurodermitis. Ich will da nichts verklären: Es gibt natürlich immer ein paar Leute, die schon früh Probleme haben. Das Gros der HIV-positiven Menschen lebt aber relativ normal.

Dann ist alles nur halb so schlimm?

Jähme: Jedenfalls steht nicht mehr das Medizinische als Problem im Vordergrund, sondern das Soziale. Der Umgang in der Gesellschaft mit mir als HIV-Infiziertem – das ist das Problem. Es heißt immer noch, man kriegt das nur, wenn man schwul ist, sich prostituiert, Drogen nimmt oder auf den Strich geht. Das haben die Medien Anfang der 80er so gesetzt, das hat sich eingebrannt. Ich erlebe mich heute aber nicht mehr als todgeweiht. Und auch nicht mehr als gefährlich. Dank der Therapien kann ich eigentlich niemanden mehr anstecken. Meine Viruslast ist unter der Nachweisgrenze.

Wie gehen Sie mit diesem Stigma um?

Jähme: Es braucht ein verdammt dickes Fell. Und es macht müde, permanent im Gegenwind der Gesellschaft zu leben, die einerseits Probleme mit HIV hat und dann auch noch mit schwulen Männern.

Waren Sie auch so gelassen, als bei ihnen 1990 die Diagnose unverrückbar fest stand?

Jähme: Nein, es ging mir schrecklich. Ich lag obendrein mit einer Hepatitis-A-Infektion im Krankenhaus und fragte mich, was mich wohl schneller unter die Erde bringt. Aber ich habe innerhalb der ersten Stunden nach der Diagnose zwei Entscheidungen getroffen. Erstens: Das ist zu heftig, um alleine damit klar zu kommen. Meine Freunde sollten lernen, damit umzugehen. Zweitens: So lange es mir gut geht, will ich ein offensives Leben führen und daran wachsen.

Welche Aussagen machen Sie sonst noch sauer?

Jähme: Wenn es angesichts der Infektionszahlen wieder heißt: „Da muss man doch was machen!“ Dabei haben wir mit 3000 Neuinfektionen jährlich in Deutschland eine der niedrigsten Quoten weltweit. In den Medien wird viel zu sehr dramatisiert.

Aber es gibt doch mehr Neuinfektionen als noch vor wenigen Jahren. Ist nicht der Trend allein Grund genug, alarmiert zu sein?

Jähme: Es ist ein Grund aufmerksam zu sein. Nicht hysterisch oder panisch. Man muss auch die Gründe für die Zahlen kennen: Zum einen sind die Statistiken genauer geworden, bis vor etwa fünf Jahren sind alle ungenauen Meldungen einfach rausgefallen. Außerdem rufen wir in den letzten Jahren vermehrt dazu auf, sich testen zu lassen.

Wie ist denn die Situation in Wuppertal?

Jähme: Wir können hier nur schätzen, gehen aber von etwa 300 bis 350 HIV-Infizierten aus.

Mir ist noch keiner begegnet…

Jähme: Das ist traurig, aber es gibt sie, diese merkwürdige Diskrepanz: Wir haben eine große Zahl HIV-Positiver im Stadtgebiet – aber keiner kennt sie. Das liegt daran, dass diese Menschen Ängste haben: Wenn meine Infektion bekannt wird, werden Vorurteile auf mir ausgekippt, keiner will mehr mit mir zu tun haben. Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz.

Was ist das populärste Vorurteil?

Jähme: „Wer sich heute noch infiziert, ist doch selbst schuld.“

Und da ist nichts dran?

Jähme: Naja, Viele haben im Kopf, dass Kondome schützen. Aber Menschen sind eben nicht nur Kopf. Menschen sind gefühlsbestimmte Wesen. Da gehen wir bisweilen Risiken ein, manchmal auch solche, wo ein Schaden zurück bleibt. Das lässt sich doch übertragen: Motorradfahren, Skilaufen, Rauchen – es gibt so viele Lebenssituationen, wo wir wider die Vernunft handeln. Wer raucht, weiß auch, dass das gesundheitsschädlich ist – und verdrängt es. Warum sollte man das Risiko beim Sex permanent im Kopf haben? Da ist es fast schon erstaunlich, dass die Prävention beim Thema HIV so gut wirkt.

Quelle: Westdeutsche Zeitung – Interview von Erik Schweitzer

Mit herzlichem Dank für die Genehmigung zur Übernahme in meinen Blog.


Philadelphia und das Leben mit HIV 2009

November 27, 2009

Der Spielfilm „Philadelphia“ hat 1993 das Leben mit HIV und AIDS in die Kinos und darüber ins breite Bewußtsein der Bevölkerung gebracht. Bei vielen Menschen haben die gezeigten Bilder die Vorstellung vom „Leben mit HIV“ nachhaltig geprägt. Was 1993 zutreffend war, gilt aber 2009 in vielen Details nicht mehr. Dennoch wird der Film auch im Jahr 2009 noch im Unterricht an Schulen und in der Ausbildung von Berufsgruppen wie Krankenpflege und Altenpflege eingesetzt. Dies ist nicht mehr zeitgemäß. Aus heutiger Sicht hat der Film Philadelphia die Bedeutung eines Historienfilms über vergangene Zeiten.

Bilder – und besonders auch Bilder im Kinogenre „Drama“ – prägen stärker als Texte unsere Vorstellungen und Einstellungen über eine Sache und eine Situation.

Das Bild vom Leben mit HIV und AIDS hat sich seit 1993 stark verändert. Es läßt sich nicht mehr auf nur „einen“ Punkt bringen.

Heute muss das Leben mit HIV durch einen „Doppelpunkt“ dargestellt werden: Vielen geht es mit HIV gut, sie fühlen sich gesund und leben ein normales Leben – und: Es gibt auch Menschen, denen es körperlich und psychisch durch HIV schlecht geht und die weiterhin Unterstützung und Hilfe brauchen.

Diese Botschaft trägt Arbeitskreis Welt-AIDS-Tag in Wuppertal mit seiner Pressemitteilung an die Öffentlichkeit:

Normal leben mit HIV in

Wuppertal

Erwerbstätigkeit mit HIV ist Normalfall. Erkrankte brauchen weiter Unterstützung.

23.11.09 – Der Wuppertaler Arbeitskreis Welt-AIDS-Tag fordert aus Anlass des Welt-AIDS-Tages (WAT) am 1.12.2009, das gesellschaftliche Bild über Menschen mit HIV und Aids zu aktualisieren. Der Arbeitskreis will zum WAT ein realitätsnahes Bild der HIV-Infektion und die positiven Veränderungen im Leben mit der Infektion an die Gesellschaft vermitteln.

Die im bekannten Kinofilm „Philadelphia“ gezeigte Situation über das Leben mit HIV ist heute so nicht mehr zutreffend. Die Entwicklungen im medizinischen Bereich haben dazu geführt, dass ein Leben mit dem Virus heute individuell ganz unterschiedlich aussehen kann. Eine große Anzahl HIV-Positiver erleben keine oder nur geringe Probleme mit ihrer Infektion. Sie beschreiben ihr Leben als durchaus glücklich und zufrieden. Viele HIV-Positive leben schon 20 Jahre und länger mit der Infektion und viele sind berufstätig.

In der Breite der Bevölkerung wird die Auswirkung des medizinischen Fortschritts dagegen nicht ausreichend wahrgenommen. Menschen mit HIV erfahren, dass man sie immer noch als „todgeweiht“ und „gefährlich“ ansieht. Die Realität ist dagegen eine andere: Wer sich heutzutage mit HIV infiziert, kann bei guter ärztlicher Begleitung mit einer annähernd normalen Lebenserwartung rechnen. Zu wenig bekannt ist auch, dass eine voll wirksame Therapie die Infektiosität so stark senkt, dass eine Übertragung der HIV-Infektion bei sexuellen Kontakten unwahrscheinlich ist.

Oberbürgermeister Peter Jung als Schirmherr der Veranstaltungen zum WAT in Wuppertal betont: „[Es ist]… heute eine vorrangige gesellschaftliche Aufgabe, HIV-Infizierten und an AIDS erkrankten Menschen ihren Platz im „normalen“ Leben mitten unter uns einzuräumen, sie zum Beispiel in Arbeit zu vermitteln, sie einzustellen, [und] sie als Kolleginnen und Kollegen zu akzeptieren.“

Michael Jähme, Sozialpädagoge bei der AIDS-Hilfe Wuppertal, ergänzt: „Etwa zwei Drittel der HIV-Positiven in Deutschland sind heute berufstätig. Anders als früher werden sie dies sehr lange fortführen können. Menschen mit HIV erleben dadurch ein weitgehend „normales“ Leben.“ Deutlichen Handlungsbedarf sieht er darin, den übertriebenen Ansteckungsängsten und Vorurteilen in der Bevölkerung entgegenzuwirken, die zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führen und HIV-Positive zur Geheimhaltung der HIV-Infektion zwingen.

Wie bei jeder chronischen Erkrankung gibt es immer auch Menschen, bei denen die HIV-Infektion gesundheitliche und psychische Krisen auslöst und zu schmerzhaften Einschnitten im Leben zwingt. Beratungs- und Unterstützungsangebote sind für Menschen mit HIV und Aids daher nach wie vor unverzichtbar. Auch die Allgemeinbevölkerung braucht kompetente Experten in seriösen Fachstellen. Kostenlose und anonyme HIV-Testangebote, Telefon- und Onlineberatung werden weiterhin gut genutzt.

Die AIDS-Fachkräfte bei AIDS-Hilfe, Gesundheitsamt und der AWO bieten allen Interessierten Fortbildungen und Informationsveranstaltungen zum aktuellen Wissensstand zu HIV und AIDS an.


Weitere Informationen:

Grußwort von Wuppertals Oberbürgermeister Peter Jung zum Welt-AIDS-Tag

„Bildervielfalt prägen – Menschen mit HIV entstigmatisieren“ – Rede von Tino Henn, Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe

An die Arbeit! – „HIV & Arbeit“ wird 2010 Schwerpunktthema der DAH

HIV und Arbeit: Die Fakten – DAH-Blog


Leben mit HIV und Aids heute

Oktober 29, 2009

Ein ausserordentlich wertvoller Fachbeitrag zieht eine kompakte Bilanz über die beachtlichen positiven Veränderungen im Leben mit HIV/Aids und über die nach wie vor bestehenden Probleme und Herausforderungen.

HIV und Aids ist ein Thema, dass sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Vieles hat sich zum Positiven verändert, trotzdem kann die Krankheit nach wie vor sowohl aus medizinischer Sicht als auch bzgl. der sozialen Absicherung eines Menschen mit großen Schwierigkeiten verbunden sein. Die Bilder, die von der Krankheit in den Medien gezeichnet werden, spiegeln die Vielfalt dessen, was eine HIV-Infektion oder Aids-Erkrankung für das Individuum bedeuten kann, nicht wider und vernachlässigen häufig die positiven Entwicklungen. Und dennoch: Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit HIV/Aids findet auch in unserer Gesellschaft immer noch statt.

Die Autoren  Stefan Timmermanns und Silke Eggers, beide Mitarbeiter der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH), nehmen eine sehr differenzierte Sicht ein und schreiben zurecht:

Für Beratende in Aidshilfen oder anderen Beratungsstellen stehen die problematische Seite und das persönliche Leiden oft im Mittelpunkt, da der überwiegende Teil ihrer Klienten davon betroffen ist. Das bedeutet aber auch, dass diese Betrachtungsweise eine große Zahl der HIV-Infizierten nicht widerspiegelt. Nämlich diejenigen, die eben keine oder nur geringe Probleme mit ihrer Infektion haben und ihr Leben durchaus als glücklich oder zufrieden beschreiben würden.

Der Fachbeitrag widmet sich darüber hinaus kritisch z.B. den gesellschaftlich vorherrschenden Bildern von HIV und Aids, geht ausführlich auf die gesellschaftlich nach wie vor bestehende Stigmatisierung und Diskriminierung ein – insbesondere mit Folgen für die Erwerbstätigkeit,  und skizziert umfassend Situation und Fragestellungen zur sozialen Sicherung von Menschen mit HIV/Aids.

Die Autoren kommen zu dem Fazit:

Auch 25 Jahre nach der Entdeckung des HI-Virus herrscht großes Unwissen. Die unbegründete Angst vor einer Ansteckung im alltäglichen Kontakt führt immer noch zu Ausgrenzung, Stigmatisierung oder zum Verlust des Arbeitsplatzes. Dies belastet viele Menschen mit HIV/Aids und erschwert es ihnen, offen mit ihrer Infektion umzugehen. Um Menschen mit HIV/Aids vor Diskriminierung effektiver zu schützen, müssen auch sie im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (ADD) berücksichtigt werden. Neben gesetzlichen Änderungen ist die Solidarität eines jeden Einzelnen ein wichtiger Schritt zum Abbau der immer noch stattfindenden Diskriminierung von Menschen mit HIV und Aids.

Die Autoren:

  • Stefan Timmermanns ist Referent für Menschen mit HIV/Aids bei der Deutschen AIDS-Hilfe .
  • Silke Eggers ist Referentin für soziale Sicherung und Pflege bei der Deutschen AIDS-Hilfe.

Der volle Text ihres Fachbeitrages ist hier als pdf nachzulesen.

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Ähnliche Beiträge zu den angesprochenen Themen in meinem Blog:

24.04.09: HIV ist nicht mehr tödlich – Leben mit HIV ist möglich

03.07.09: Das P von Proud:  Es geht nicht um HIV, es geht darum, welche Bedeutung Du Deinem Leben gibst

01.03.09: Mehr Spaß am Sex mit kontrollierter Viruslast: be smart about HIV

05.12.08: Arbeit und Aids. Von der Panik aufzufliegen…“

21.09.08: Neuer Optimismus im Leben mit HIV:  Ich werde HIV überleben!

02.01.08: Wem schadet meine Lebensfreude?


Das Trauma AIDS muss im Gespräch mit schwulen Senioren einen Platz haben

Juli 12, 2009

Auf dem Fachtag der AIDS-Hilfe Frankfurt „Leben im Alter – In Würde alt werden“ hielt ich am 11. Juli 2009 einen Vortrag zum Thema: „Noch ein paar schöne Jahre… – Perspektiven älterer schwuler Männer mit HIV“. Da ich in freier Rede gesprochen habe, skizziere ich im folgenden die wesentlichen Schwerpunkte meines Vortrages:

Wir werden immer älter. Und wir werden immer mehr! In der AIDS-Hilfe, wo ich arbeite, sind 25% der HIV-Positiven, deren Geburtsjahr bekannt ist,  50 Jahre und älter. Weitere 50% sind zwischen 40 – 50 Jahre alt.

Alt werden mit HIV, dies wurde bei bisherigen Fachtagungen, die sich mit dem schwulen älter-werden befassten, immer nur am Rande behandelt. Nun ist das älter-werden mit HIV seit 2008 auf medizinischen Kongressen ein etabliertes Themenfeld. Eigene Fachtagungen zu den diversen biografischen, psychologischen und sozialen Aspekten des älter-werden mit HIV stehen noch aus.

Durch das Erscheinen der Krankheit HIV/AIDS wurde eine ganze Generation schwuler Männer traumatisiert. Die Tragweite und Tiefe dieser Traumatisierung wird sich in Zukunft mit dem Älter-werden dieser schwulen Generation und dem Älter-werden HIV-positiver Menschen wahrscheinlich erst noch zeigen. Es gilt, sich darauf vorzubereiten.

Im historischen Rückblick ist schwulen Männern die Traumatisierung der Adenauer-Ära als Zeit der Kriminalisierung von Homoexualität ein fester Begriff.

Die durch AIDS seit Beginn der 80er Jahre einsetzende Phase erneuter, andersartiger aber nicht minder schwerer Traumatisierung, erscheint erst heute, wo zuverlässige medizinische Erfolge der Behandlung der HIV-Infektion sich eingestellt haben, als „Ära“ ein- und abgrenzbar.

Dass selbst das RKI im Mai 2009 davon spricht, dass „AIDS eine weitgehend vermeidbare Komplikation einer HIV-Infektion“ geworden ist,  bestärkt meinen Eindruck, dass wir eine schwere Zeit hinter uns gelassen haben und eine wieder leichtere Zeit begonnen hat.

Im Älter-werden und im Lebensrückblick schwuler Senioren erscheint es mir sehr wahrscheinlich, dass sowohl von schwulen HIV-Positiven, welche ihre frühe Diagnose bis heute überlebt haben, als auch von schwulen Senioren, die bis heute HIV-negativ geblieben sind, in den Biografien HIV-spezifische Erfahrungen lebensprägend waren und sind.

Dies sind nicht nur Verluste von Lebenspartnern und Freunden durch einen AIDS geschuldeten Tod, sondern auch Trauer über ein „aus Angst vor Ansteckung mit HIV, oder Übertragung von HIV nicht-gelebtes Leben“. Jetzt, wo HIV seinen Schrecken verliert und das Leben wieder leichter wird, sind wir aber alt geworden und ein Nachholen des bisher nicht-gelebten ist i.d.R. nicht mehr möglich.

Auch diejenigen, denen im Leben mit HIV eine positive Lebensbewältigung gelungen ist, brauchen die aufrichtige und interessierte Einladung, (einander) mitteilen zu können, wie es ihnen ergangen ist und was sie in der AIDS-Krise erlebt haben.

Zum „In Würde alt werden“ braucht es Selbstakzeptanz und Bejahen auch des nicht-gelebten Lebens. Es muss möglich sein, sich selber und anderen gegenüber klar sagen zu können: „Ja, so war es!“ Und es muss möglich sein, darin verstanden zu werden.

Diese 25 Jahre HIV und AIDS durchlebt und erlebt zu haben, mit der aufbrandenen Homophobie der Gesellschaft als Gegenwind, mit der tödlichen Bedrohung durch HIV im Nacken und als HIV-Positiver oft auch mit dem Heimatverlust durch Ausgrenzung in der eigenen Community, dies ist eine Lebensleistung, die zu würdigen ist, die in vielen Leben mit HIV einer Wertschätzung und Anerkennung würdig ist.

Schwulen Männern ist es individuell und als Kollektiv gelungen, diese doppelte Bedrohungen auszuhalten und abzuwehren. Wir haben kreative Lösungen gesucht mit Safer-Sex-Workshops und mit der Gründung von AIDS-Hilfen, mit Kampagnen, Präventionsprojekten, Spezialpflegediensten etc. Wir haben leistungsstarke Strukturen und Organisationen aufgebaut, die unserer schwulen Community und auch der Gesellschaft von Nutzen sind.

Wer aus dieser schwulen Generation, die besonders den Beginn der AIDS-Krise Anfang der 80er Jahre miterlebt hat, heute noch lebt, legt Zeugnis davon ab, vor der Bedrohung nicht kapituliert zu haben, sondern sie zumindest äusserlich bewältigt, weil überlebt zu haben.

Wie viele Suizide dagegen HIV geschuldet sein mögen, wird immer ungewiss bleiben. Aber es werden nicht wenige sein.

Die innerpersönliche Bewältigung kann mehr, oder auch weniger vollzogen sein. Vielleicht ist sie auch nie abschliessbar. Ich vermute: Oft wird die erlebte Traumatisierung noch gar nicht gespürt und erkannt. Für viele ist der Schmerz noch zu groß und zu tief in der Seele „verbuddelt“ und wirkt von dort depressiv-verstimmend in den Lebensalltag hinein.

Durch die heute zur Verfügung stehenden wirksamen Therapien könnte  AIDS nicht länger traumatisierend sein:

1. Ist eine HIV-Infektion erkannt, ist das Fortschreiten ins Krankheitsstadium AIDS weitgehend vermeidbar und eine weitgehend normale Lebenserwartung möglich.

2. Wird die HIV-Infektion medikamentös behandelt, ist die Infektiosität i.d.R. wirksam unterdrückt und ein angstfreies Leben von Sexualität wird wieder leichter möglich.

Beides stellt eine Zäsur für die emotionale Bewertung und den Umgang mit HIV dar. Das Leben normalisiert sich wieder.

Und dadurch wird ein Prozess ermöglicht und einsetzen, nach und nach Rückschau zu halten auf das, was wir schwulen Männer und heutigen schwulen Senioren in der AIDS-Krise erlebt und durchlebt haben.

Auf diese Rückschau wird sich jeder sehr unterschiedlich einlassen, eben weil die Erinnerung an den Schmerz über verstorbene Freunde oder ungelebtes Leben noch so emotional aufgeladen sein kann, dass  eine Abwehr und ein Aufrechterhalten der Vermeidung des Spürens der emotionalen Tribute dieser Lebenszeit beherrschend sind und ein Zulassen verhindern.

Trauer ist die Emotion der Wandlung. Wer Trauer nicht zulässt, verhärtet. Spüren wir Trauer, fliessen oft auch Tränen, das Verhärtete kommt in Fluss und kann sich wandeln. Es wird sichtbar, dass wir des Trostes und des Gehalten-werdens bedürfen.

Wenn wir zulassen, was war, können wir auch zulassen, was jetzt ist und warum und wie wir geworden sind, die wir sind. Dann können wir Gemeinschaft erfahren.

Die Rückschau wird in jedem Schwulen ganz persönliche Erinnerungen und Erfahrungen wachrufen. Es bedarf behutsamer Geduld und Gesprächsräume, alles Wesentliche der eigenen Biografie zur Sprache zu bringen und sichtbar werden zu lassen. Hier sehe ich neben Freundeskreisen auch die Beratungsstellen und AIDS-Hilfen gefordert, mit der nötigen Sensibilität, aber auch Ermutigung, zur Begegnung mit diesem Teil der eigenen Lebensgeschichte einzuladen.

Einschränkungen durch HIV, unterschiedlichster Art, prägen in unterschiedlichen Maß eine ganze Generation schwuler Männer. In der Begegnung mit schwulen Senioren, wo auch immer, sollte bewusst sein, dass es lohnen kann, hierfür aufmerksam zu sein.

Vor Altersnostalgie dagegen sind wir gefeit. Früher war eben NICHT alles besser. Besser ist es HEUTE. Schwul zu leben ist heute wesentlich leichter geworden. Und nie war die Therapierbarkeit der HIV-Infektion so gut wie heute.

Die Forschung muss aber weitergehen, bis eine Heilung von HIV und eine Impfung vor HIV gefunden ist.

In Würde alt zu werden, dafür erscheint es mir angemessen, uns untereinander Anerkennung für die Lebensleistung auszusprechen, sich gegen die Heteronormatitivät behauptet zu haben.

Aber ich erwarte auch, dass die Gesellschaft ihre aufrichtige Wertschätzung für die ausserordentliche Lebensleistung meiner Generation schwuler Männer in der AIDS-Krise würdigt.

Die volle Rehabilitierung und das Ende der Stigmatisierung von HIV-Positiven, sowie die volle Anerkennung von homosexuellen Lebensweisen seiten der Gesellschaft steht noch aus.

In Würde alt werden und als schwuler Senior – gerade auch mit HIV – sichtbar zu sein, daran wird sich unsere Gesellschaft gewöhnen müssen. Dafür brauchen wir starke schwule Senioren-Netzwerke.

Wir sind die Stonewall-Generation! Uns kriegt keiner mehr zurück in den Schrank! Im Alter erst recht nicht!