WEITERLEBEN: Gegen den Strom ins Leben

Dezember 2, 2012

Am 1. Dezember 2012 fand in der Frankfurter Paulskirche die 19. Gedenkveranstaltung der AIDS-Hilfe Frankfurt zum Welt-Aids-Tag statt. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto ‚WEITERLEBEN‘. Im Folgenden als Dokumentation die von mir, Michael Jähme, dort gehaltene Rede:

Gegen den Strom ins Leben

Liebe Freunde und Freundinnen, sehr geehrte Damen und Herren!

Von den Veranstaltern wurde ich als Redner eingeladen, weil ich in den letzten Jahren bewusst über das Älterwerden mit HIV und über den Umgang mit Erinnerungen und Geschichte nachgedacht und öffentlich gesprochen habe. Dies möchte ich heute mit einigen neuen Aspekten fortsetzen.

Ich lebe als schwuler Mann nun schon über 22 Jahre mit der Diagnose HIV. Ich bin jetzt 53 Jahre alt, und damit viel älter geworden, als ich es mir am Tag der HIV-Diagnose im April 1990 je zu träumen wagte. Ich bin nicht traurig, bis heute weitergelebt zu haben. Im Gegenteil, ich empfinde Glück und Lebensfreude darüber. Und in dieser Lebensstimmung bin ich viel stärker beheimatet als in der Trauer.

Das Leben mit HIV, wie ich es in den frühen 90er Jahren erlebt habe, war geprägt von einer Todesbedrohung und großen persönlichen Unsicherheit um die eigene Zukunft. Intensiv war der Zusammenhalt unter den HIV-Positiven, wir fühlten uns als Schicksalsgemeinschaft. Neben all der Trauer um Weggefährten und Freunde, die erkrankten und starben, gab es auch eine eigenartige intensive Emotionalität, gespeist von Vitalität, Lebenslust und Bewusstsein der eigenen Stärke und des Rechts auf Leben. Der von außen kommenden und auch teils verinnerlichten Zuschreibung von „Todgeweihten“ mussten wir einen Lebenswillen entgegensetzen, um überhaupt weiterleben zu können. Es galt, sich gegen die Zuschreibungen von und über HIV zu behaupten.

Dieser Zustand dauerte mehrere Jahre an. Groß angekündigte hoffungsvolle Therapiefortschritte entpuppten sich immer wieder nur als Luftnummern. Um nicht permanent die anstrengende Achterbahnfahrt von Hoffnung und Absturz in die Enttäuschung durchleben zu müssen, wurden wir gegenüber Versprechungen über therapeutischen Fortschritt skeptisch. Das Erleben der Erkrankungen und des Sterbens an Aids um uns herum gab dieser Skepsis ja auch Recht. Die vom Wunsch getragene Erwartung der 80er Jahre, dass die medizinische Forschung schnell eine Therapie oder Heilung von HIV finden würde, blieb enttäuscht.

Realistische Hoffnungen auf Lebensrettung entwickelten sich Mitte der 90er Jahre. Kombinationstherapien brachen die Macht des HIV über unsere Körper, nährten Hoffnung und ermöglichten neue Lebensperspektiven. In der AIDS-Hilfe NRW nahm ich im September 1997 an einer „Zukunftswerkstatt“ mit dem Titel „Von der Zeit nach AIDS“ teil. Der visionäre Titel löste damals teils heftige abwehrende Empörung aus. In der Dokumentation dieses Workshops findet sich folgendes Zitat von mir: „Das ‚Opi’ werden im positiven Sinne würde mir gefallen.“ Die Lust, weiterleben und von den eigenen Erfahrungen erzählen zu wollen, hat mich also schon damals getragen und es scheint, dass ich inzwischen das Großvatersein erreicht habe. 22 Jahre leben mit HIV, das macht alt, da hat man viel zu erzählen…

Trotzdem blieb auch in den 90er Jahren bei mir die Skepsis noch lange lebendig: Wie lange würde die Schutzwirkung der Kombitherapien andauern? Wie lange dauert es, bis Resistenzen da sind? Wie gefährlich sind die Nebenwirkungen und Langzeitnebenwirkungen? Meine Lebensstimmung war geprägt von der Erfahrung: „Es hilft!“, aber gleichzeitig blieb die Verunsicherung des „Aber wie lange wird es gut gehen?“

Gefühlt saß mir HIV immer noch bedrohlich nah im Nacken. Rückblickend habe ich für diese Zeit ein symbolisches Bild gefunden: Ich sehe mich als Schwimmer, der im Wasser alle Kraft aufwenden muss, gegen eine starke Strömung anzuschwimmen und gegen einen Sog anzukämpfen, der drohte, mich unter Wasser zu ziehen und in einem riesigen Strudel zu verschlingen.

Ich verstehe dieses Bild aus heutiger Sicht so: Wenn man mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, hat man zum Erinnern und zum Blick zurück keine Zeit. Innehalten und den Blick zurückzuwenden war gefährlich und somit gar nicht möglich. Überleben ging nur mit dem Blick und aller Konzentration nach vorne.

Für mich war es dann wohl um das Jahr 2003, als ich begann, mich mit der Kombitherapie dauerhaft sicher zu fühlen. Wieder in das Bild vom Schwimmer einsteigend, erlebte ich mich nun in ruhigeren Gewässern. Die Todesbedrohung war weg, ich hatte HIV überlebt, und nun ist es auch möglich, innezuhalten, den Blick zurückzuwenden und anzufangen zu verstehen, was ich und wir da eigentlich an Schrecken erlebt und überlebt haben.

Gesellschaftlich herrschten aber noch ganz andere Bilder vom Leben mit HIV vor: HIV-Positive wurden ausschließlich als Kranke, als Opfer dargestellt. Das Leben mit HIV wurde zwar allmählich nicht mehr vom Tod, aber doch immer noch von den Nebenwirkungen der Medikamente her präsentiert.

Was ganz eindeutig fehlte, war die Perspektive, Menschen mit HIV auch als Sieger, als erfolgreiche Kämpfer zu zeigen, die selbstbewusst und stolz sind auf das, was sie über all die Jahre überlebt und in ihrem Leben erreicht haben. Und was sie sich im Gegenwind der Vorurteile an Lebensraum erkämpft haben. Ohne es zu bemerken, sind wir Zeitzeugen geworden, Zeitzeugen einer Zeit, als es noch keine HIV-Medikamente gab, als Freunde und Weggefährten einer nach dem anderen wegstarben und ein unvorstellbarer massenmedialer moralisch unterlegter Hysteriesturm die Republik erfasste.

Mir geht es heute darum, ein Bewusstsein zu wecken, dass es eine zu würdigende Lebensleistung ist, diese schwierigen Zeiten überlebt zu haben. Wir sind Zeitzeugen – und diesen Begriff verstehe ich als Ausdruck dessen, dass wir authentische Träger einer Erfahrung sind, die es wert ist, bezeugt und im kollektiven Gedächtnis bewahrt zu werden.

Wir müssen lernen, über die Vergangenheit zu reden, uns mitzuteilen, unsere Erlebnisse in Worte zu fassen, Unausgesprochenes auszusprechen, vielleicht auch erst einmal auszuprobieren, Worte zu suchen und zu finden. Und weil das, was wir erinnern, immer emotionale Momente sind – anderes vergessen wir nämlich – gehört zum Erinnern auch das Wiedererleben der Gefühle von damals. All die Angst und Enge, die Gefahr und der Schmerz über erlebte Gefahren, Demütigungen und Verluste, aber auch erlebt Solidarität und all unsere Lebendigkeit und Lebenskraft ruhen in unseren Erinnerungen. Es tut gut, anderen Geschichten erzählen zu können von dem, was wichtig war im Leben. Um wirklich lebendig zu werden, ist es wichtig, nicht nur informativ zu berichten, sondern emotional beteiligt zu erinnern mit einem „Stell dir das mal vor! So war das damals!“ Und dafür brauchen wir Gesprächspartner, deren Wertschätzung und deren aufrichtigem Interesse wir gewiss sein können.

Natürlich hat die Erfahrung von HIV unser Leben geprägt und manche Pläne verhindert. Mich überzeugt aber ein Satz der von mir sehr geschätzten Psychotherapeutin Verena Kast, die sagt: „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben!“ Damit rückt sie genau das in den Vordergrund, was ich mit der Rolle des Zeitzeugens meine: Das was ich – und jeder von uns – mit HIV erlebt hat, hat einen Wert. Das Leben mit HIV hat einen Wert – und wenn es noch so viel Stigmatisierung und Diskriminierung gibt. Wir müssen anfangen, uns selber mehr wertzuschätzen – und wir sollten uns selber Räume schaffen, in denen wir gegenseitig unsere Geschichten erzählen können. Wenn wir Geschichten von unseren Erlebnissen erzählen, können wir ihnen einen Ort und eine Bedeutung in unserem Leben geben. Und im Lebensrückblick kann sich die Bedeutung eines Erlebnisses auch verändern, können sich die prägenden und auch die selbstwertstärkenden Kräfte entfalten, wie es uns gelungen ist, weiterzuleben.

Ich sehe es als eine Zukunftsaufgabe für Aidshilfen, diese Orte der Begegnung und des gemeinsamen Erinnerns herzustellen. Ich fürchte, es gibt viele Menschen mit HIV, die ihre Geschichten noch nicht erzählt haben. Genau dies haben die Interviewer und Interviewerinnen des gerade abgeschlossenen Projekts „positive-stimmen“ erlebt. Weil sie auf Menschen mit HIV direkt zugegangen sind und hören und erfahren wollten, was sie an HIV-bezogener Stigmatisierung erlebt haben, ergab sich für viele HIV-Positive erstmals die Gelegenheit, teils sehr belastende und erschreckende Erfahrungen mitzuteilen.

Ich bin überzeugt, dass es besonders für das Älterwerden mit HIV wichtig ist, über das eigene Leben mit HIV zu erzählen. Für ein gutes Identitäts- und Selbstwertgefühl ist es wichtig, anzuerkennen und damit wahr werden zu lassen, was war und was ist. Ein Bewusstsein für die eigene Biografie und ein Bewusstsein über den Wert des eigenen Lebens schützt zudem präventiv vor Depressionen, die bei HIV-Positiven häufiger festgestellt werden.

Gemeinschaftliche Biografiearbeit in kleinen Gruppen ist dafür eine sehr geeignete Methode. Biografiearbeit kann Bedürfnissen von Menschen mit HIV entsprechen, die mehr brauchen als eine kurze sozialpädagogische Beratung – aber weniger als eine lange Psychotherapie. Wir müssen nicht alle auf die Couch, oft reicht auch ein einladender freier Stuhl im Kreis einer Gruppe.

Unser gelebtes Leben ist ein großer Schatz und eine reiche Ressource von Fähigkeiten. Meine Vision ist, dass wir aus der Trauer erwachen. Und dass wir die in der Trauer und in der Erinnerung gebundene Kraft befreien für unser Leben heute und morgen.

Wir haben doch gelernt, gegen den Strom zu schwimmen und uns zu behaupten. Das hat uns nicht nur Kraft gekostet, es hat uns auch stark gemacht.

***

Nach Ende meines offiziellen Redetextes schloss ich spontane Worte des Erinnerns an Markus Volk an, der wenige Tage zuvor am 27.11.2012 in Frankfurt gestorben ist. Markus war mit seiner HIV-Infektion öffentlich, seit 2008 als Rollenmodell in der Präventionskampagne „Ich weiss was ich tu“ und im Jahr 2010 als Botschafter der ersten Staffel der neuen Kampagne „Positiv zusammen leben“. Markus hat das gelebt, womit ich in meiner Rede ende.

Anlässlich des Starts der Kampagne „Positiv zusammen leben“ 2010 wurde ihm in einem Interview die Frage gestellt: Hast du eigentlich keine Angst davor, dass du jetzt in der Öffentlichkeit mit triefendem Mitleid überschüttet wirst?

Markus antwortete entschieden: „Nein, denn ich lasse den Leuten gar nicht die Wahl. Wenn mir ein Reporter traurig in die Augen guckt, dann sage ich dem ganz schnell: „Passen Sie mal auf, das ist genau das, was wir nicht wollen. Wir wollen zeigen, dass wir stark sind!“ Und die, die nicht stark sind, wollen wir schützen.“  

 


Eine eigene Stimme der Positivenselbsthilfe ist unverzichtbar

November 24, 2012

Die AIDS-Hilfe Leipzig veröffentlichte ihr aktuelles Magazin „Querele“ zum Themenschwerpunkt „EKAF – 4 Jahre danach“ . Für die Querele zog ich folgende persönliche Bilanz:

Die Erkenntnis, unter wirksamer HIV-Therapie beim Sex nicht mehr infektiös zu sein, heilte meine Seele. Beim Lesen der  EKAF-Stellungnahme vom 30.1.2008 spürte ich, wie sehr mein Selbstwertgefühl beschädigt war seit der HIV-Diagnose 1990. Seit damals beherrschte mich das Bewusstsein, eine Gefahr für andere sein zu können. Seitdem änderte sich alles. Endlich fiel diese Last von mir ab. Ich bin nicht mehr auf die Bereitschaft anderer Menschen angewiesen, mit mir ein Risiko einzugehen – denn es gibt keines mehr! Die Kränkung meines Selbstwertgefühls, die trotz selbstbewusstem und emanzipatorisch offenem Umgang mit meiner HIV-Infektion im Verborgenen vorhanden war, löste sich auf. Ich bin von einer bedrückenden Last befreit – und begegne anderen mit neuer frischer Selbstverständlichkeit.

Meine Freude war groß, aber die Erfahrung, dass die AIDS-Fachwelt auf die EKAF-Veröffentlichung mit großen Vorbehalten und teils vehementer Abwehr reagierte, empörte mich. Bei jeder anderen Krankheit werden Therapiefortschritte, die das Leben leichter machen, freudig aufgenommen und kommuniziert – aber bei HIV war es einmal wieder anders! Ich erlebte es als massive Diskriminierung, dass meine Lebensqualität als Mensch mit HIV nicht zählte – und alles der Sorge um weiter wirksame Prävention von Neuinfektionen untergeordnet wurde. Unausgesprochen wurde unterstellt, dass wir Menschen mit HIV mit dem Inhalt der EKAF-Stellungnahme nicht verantwortlich umgehen würden und es zu einem Anstieg der Neuinfektionszahlen kommen könnte. Die Lernstrategie, auf die wir in Deutschland als bewährtes Mittel der HIV-Prävention so stolz sind, wurde aufgegeben. (Lernstrategie beinhaltet, dass der aktuelle Wissensstand unzensiert an die Bevölkerung weitergegeben wird, verbunden mit daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen zur Vermeidung einer HIV-Übertragung und dem Hinweis auf Eigenverantwortung.)

Während in den 1980er und 1990er Jahren Neuigkeiten aus Wissenschaft und Forschung sofort in Aidshilfen lebendige Diskussionen auslösten, um die Spreu seriöser Nachrichten von überzogenen Meldungen zu trennen, erlebte ich nach der EKAF-Veröffentlichung eine erstaunliche Schockstarre: Ein großes Schweigen, große Verunsicherung, keiner traute sich, öffentlich zu werden.

Nur wenige Aktivisten der Positivenselbsthilfe, zu denen auch ich mit meinem kurz zuvor gestarteten Blog „termabox“ gehörte, bezogen Position, exponierten sich, redeten laut und streitbar über die EKAF-Stellungnahme. Am 4.Mai 2008 schrieb ich im Blog: „Way of no return – Die Feststellung der Nicht-Infektiosität ist eine Revolution in der AIDS-Historie.“ Damit sollte ich Recht behalten: Die EKAF-Stellungnahme IST eine Zäsur in der Historie von HIV wie schon zuvor Vancouver 1996, als auf der Welt-AIDS-Konferenz die Einführung wirksamer HIV-Medikamente dem großen Sterben ein Ende bereitete.

Aus der EKAF-Debatte nehme ich die Erkenntnis mit, wie unverzichtbar es ist, dass die Positivenselbsthilfe innerhalb und außerhalb von Aidshilfen eine freie Stimme behalten muss.

Heute, also viereinhalb Jahre nach Veröffentlichung der EKAF-Stellungnahme erlebe ich immer noch, dass Menschen erstaunt sind zu erfahren, dass die wirksame HIV-Therapie den Effekt einer Nicht-Infektiosität auslösen kann. Sie fragen zurecht: Warum hört man darüber nichts?

Auch im heutigen Zeitalter wirksamer HIV-Therapien reagieren Menschen bei einer HIV-Diagnose mit Verzweiflung und massiver Angst, mit HIV kein lebenswertes Leben mehr führen zu können. Unbekannt ist, wie häufig das suizidale Krisen auslöst und Menschen tatsächlich Suizid begehen. Aber genau das geschieht.

Ein offenes Aufklären und Reden über die Fortschritte in der HIV-Medizin ist aus meiner Sicht eine ethisch gebotene Verpflichtung, denn das Wissen um die Möglichkeit der Nicht-Infektiosität bei wirksamer HIV-Therapie ist ein effektiver Beitrag zur Suizidprävention.

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Die  Querele als pdf

Außerdem zum Thema: Deutsche AIDS-Hilfe FAQ’s:  „Schutz durch Therapie“


„Ich hab was zu erzählen…“ – Biografiearbeit für schwule Senioren ab 50plus

August 5, 2012

Ab September 2012 biete ich zusammen mit Georg Roth (Landeskoordinator Schwule Seniorenarbeit in NRW) erstmals als Pilotprojekt eine Gruppe Biografiearbeit für schwule Männer ab 50 an. Wir freuen uns über Anmeldungen und weitere Verbreitung der Einladung!

„Du schon wieder mit Deinen Geschichten!“  – wem von uns ist dieser Satz nicht schon untergekommen, wenn wir von unserer ersten großen Liebe oder unserem ersten Meerschweinchen erzählen wollten.  Und wie oft gehen Begegnungen und Gespräche über den üblichen Small-Talk nicht hinaus.

Das wollen wir in unserer Gruppe anders machen. Denn jeder Mensch hat seine Geschichte. Und jede dieser Geschichten ist es wert, dass sie erzählt wird. Ein schwules Leben ist ja auch immer ein Leben mit besonderen Herausforderungen, die zu bewältigen dem einen mehr und dem anderen weniger gut gelingt. Aber klar ist doch: jeder packt sein Leben an, so gut er kann. Jeder ist auf der Suche nach seinem Glück. Und deshalb ist auch jede Lebensgeschichte wert, erzählt zu werden.

Wir etwas älteren schwulen Männer haben viel erlebt: Die Zeit des § 175, die 68er Zeit, Stonewall und Schwulenzentren, HIV und AIDS, Älterwerden. Aber nicht nur die großen Ereignisse, die uns alle verbinden, sind es, die zu unserem Leben und unserer Biografie gehören. Es sind die ganz persönlichen Erinnerungen: der erste Mensch auf dem Mond, das erste Mal in einer schwulen Kneipe, der Fall der Mauer, der erste Sex mit einem Mann, die erste Zigarette, das erste Kondom…

Eingeladen sind besonders die von uns, die bisher wenige Möglichkeiten hatten, einmal ihre Geschichte zu erzählen. Man braucht kein Erzählkünstler zu sein, um aus seinem Leben zu erzählen. Die eigene Geschichte zu erzählen ist auch ein Abenteuer: schon vergessen geglaubte Erlebnisse wieder zu erinnern mit allen Höhen und Tiefen. 

Biografiearbeit ist kein „wehmütiger Blick zurück“. Geschichten erzählen, eigene Geschichten erzählen, ist eine Einladung zur Begegnung miteinander. Und so ergeben sich auch Ausblicke auf das, wohin uns das Leben noch zieht. Die Erlebnisse der Anderen als vitalisierenden Ansporn zu erfahren. Manches ist auch jetzt noch möglich…

Es wäre schön, wenn möglichst viele unterschiedliche Lebenswege erzählt werden. Denn jeder Lebensentwurf ist es wert, berichtet und erfahren zu werden: von der politischen Bewegungsschwester über den promisken Partykerl, vom schwulen Vater bis zum dauerhaften Paar mit Hund im Eigenheim

Also: wer hat Lust auf diese Gruppe?  In der jeder „Zeitzeuge“ ist. In der Zeit und Raum ist für Erinnerung, Tiefe und Vision.

  • Anmeldung über: georg.roth@rubicon-koeln.de (bitte mit Telefonnummer, um ein Vorgespräch zur Motivationsklärung bzw. Klärung der Erwartungen führen zu können)

„Wen therapieren wir hier eigentlich?“ – Ein intergenerativer Dialog zum Leben mit HIV

März 5, 2012

Marcel Dams (21), Jungpositiver aus Essen, und der seit 21 Jahren infizierte Michael Jähme (52) aus Köln schreiben beide in einem eigenen Blog über das Leben mit HIV (teilzeitblogger.wordpress.com und termabox.wordpress.com). Sie trafen sich in Köln zum Gespräch der Generationen. Birgit Schreiber moderierte.

 

Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt?

Michael: Im Internet, beim Bloggen. Marcel hat einen Satz von mir zitiert.

Marcel: Ja, der lautete ungefähr so: „Es liegt an dir, welche Bedeutung du HIV in deinem Leben geben willst. Lass dir von den anderen nichts vorschreiben.“

Michael: Ich war fasziniert, dass jemand mich zitiert, noch dazu ein so junger Mensch. Und ich fand es toll, dass jemand aus der jungen Generation so powert. Ich blogge erst seit 2007. Da war ich schon 17 Jahre positiv.

Marcel: Eine seltsame Vorstellung – als ich geboren wurde, hast du dich infiziert.

Michael: Stimmt. In deinem Alter hätte ich mich damals nie getraut, so offen über HIV zu sprechen und mich so angreifbar zu machen.

Marcel: Wir haben heute viel mehr Freiheiten. Es ist viel einfacher, im Netz und im Privatleben zu sagen, ich bin schwul.

Michael: Ich bin in eine Zeit hineingeboren, in der Schwulsein durch den § 175 noch unter Strafe stand. Das hängt mir nach, macht mich und andere meines Alters vielleicht misstrauischer. Und ich war bürgerlich sozialisiert. Mein Coming-out hatte ich mit 26. Ich war schon immer politisch und selbstbewusst, aber erst mit EKAF wurde ich ein Tabubrecher – auch in den Augen meiner Kollegen der Aidshilfe. Ich hatte den Eindruck, man traute den Positiven einfach nicht zu, mit der Botschaft angemessen umzugehen. Das fand ich diskriminierend und empörend. Und es war wichtig, dass HIV-Positive da Druck gemacht haben. Heute kann ich in dem anfänglichen Zögern der DAH, das EKAF-Statement offensiv zu unterstützen, auch etwas Ehrenwertes sehen – man wollte ganz sicher sein und keine unkontrollierbare Diskussion losbrechen.

Marcel: Als ich von EKAF schließlich erfuhr, habe ich mich gefragt, ob der Öffentlichkeit da was verschwiegen worden ist. In einem Blog habe ich später von meinem Recht auf kondomlosen Sex geschrieben, und es gab viele wütende Reaktionen. Die Leute warfen mir vor, ich würde Sex ohne Kondom propagieren. In Wirklichkeit plädiere ich für individuellen, verantwortungsvollen Umgang mit den verschiedenen Möglichkeiten des Safer Sex. Und das kann heute eben auch Sex ohne Kondom sein.

Michael: Wie gehst du damit um, wenn Leute aggressiv auf deine Meinung reagieren?

Marcel: Online verkrafte ich Widerspruch gut. Manchmal kriege ich fünf Schmähmails am Tag. Bestürzt war ich, als ich einen echten Brief im Postkasten zu Hause fand. Darin stand: „Du musst gestoppt werden, die Vorbereitungen sind im Gange.“ Zum Glück war das eine einmalige Sache.

 

Wie seid ihr beide zum Bloggen gekommen?

Marcel: Die Diagnose „HIV“ war für mich ein Schock. Ich konnte nichts fühlen, nur Ekel vor meinem Körper. Ich zog mich zurück. Dann sagte ein Psychologe zu mir, Anfeindungen seien weniger gefährlich, wenn ich mich selbst akzeptieren könne. Da hat es Klick gemacht. Ab jetzt wollte ich mich nicht nur akzeptieren, sondern viel, viel mehr. Doch im Internet, in dem junge Leute ja gern unterwegs sind, hatte ich bislang nur von Langzeitpositiven gelesen. Und Urteile über HIV-Positive wie „Schwulenkrankheit“, „unmoralisch“ oder „selber schuld“, die ich in manchen Foren fand, machten mich wütend. Dem wollte ich was entgegensetzen. Im Bloggen fand ich dann einen passenden Weg, mich zu engagieren und auch jungen Infizierten eine Stimme zu geben.

Michael: Ich habe 2007 zu bloggen angefangen und entdeckt: Manchmal ist Schreiben sehr heilsam, man lernt sich und seine Positionen besser kennen. Das ist gut für das Selbstwertgefühl. Beim Bloggen tue ich also etwas für mich und meine Lebensqualität. Ich frage mich allerdings, wen wir mit unseren Blogs mehr therapieren: uns selbst oder die Gesellschaft, die ihre Ängste über uns auskippt. Vieles, was menschlich ist, wird verdrängt und auf uns abgeschoben.

Marcel: Angst und Verdrängung gibt es auch unter Positiven. Als ich gerade erfahren hatte, dass ich positiv bin, hat mir ein älterer Infizierter gesagt: „Am liebsten würde ich dich jetzt ohrfeigen, weil du dich angesteckt hast.“ Für mich war das sehr, sehr schlimm. Enttäuschend war für mich auch, dass die Leute bei der Aidshilfe so wenig verständnisvoll waren und mir nichts zutrauten. Als ich eine Gruppe für Jungpositive aufmachen wollte, musste ich dafür kämpfen. Dabei heißt es doch immer, die Jungen sollen sich engagieren.

Michael: Ja, viele Ältere trauen den Jungen nichts wirklich zu. Das ist nicht meine Haltung. Ich bin sehr neugierig, wie jüngere Schwule – oft mit weniger emotionalem Ballast – die Dinge anders machen. Deshalb mache ich wirklich gerne Platz. Wenn ich demnächst in Teilrente gehe und meine Arbeitszeit reduziere, hoffe ich, dass die frei werdenden Stunden mit einem jungen Sozialarbeiter besetzt werden, der Bereiche wie Prävention und Öffentlichkeitsarbeit übernimmt. Ich glaube, dass gerade die jungen Mitarbeiter die Potenziale der neuen Medien für die Aidshilfen nutzbar machen können. Wir brauchen auch jüngere Mitarbeiter als Identifikationsfiguren, die das Lebensgefühl der jüngeren Generation besser kennen.

Marcel: Junge Berater sind auch deshalb wichtig, weil man manche Themen am besten mit Gleichaltrigen klärt: die Probleme am Arbeitsplatz, in der Schule, Prüfungen. Aber ich lerne auch gerne von älteren Infizierten.

Michael: Ich erwarte nicht, dass die jungen Leute mich und andere meines Alters verstehen. Man kann sich doch nie wirklich vorstellen, wie es ist, wenn man älter ist. Aber gerade deshalb möchte ich mit den jungen Positiven wie Marcel im Gespräch bleiben. Und ich würde gern mal deine Eltern kennenlernen, die da so einen reflektierten jungen Mann großgezogen haben.

Marcel: Ich selbst bin noch immer sehr beeindruckt von der Vorarbeit und der Radikalität der Langzeitpositiven. Ihr habt damals die Öffentlichkeit sehr provoziert.

Michael: Wir hatten den Tod vor Augen und nichts mehr zu verlieren. Ihr seid heute in einer ganz anderen Situation: Wenn ihr euch outet, werdet ihr das euer ganzes Berufsleben nicht mehr los. Andererseits: Die Infektion zu verschweigen und 40 Jahre zu fürchten, euer Geheimnis könnte enthüllt werden, ist auch keine Perspektive.

Marcel: Das war ein Grund, weshalb ich so öffentlich positiv bin. Das habe ich nie bereut. Seit ich bei IWWIT mitmache, komme ich mit so vielen Menschen ins Gespräch. Und ich freue mich schon auf die Kampagne zum Welt- Aids-Tag 2011, da bin ich dieses Jahr dabei.

Michael: Mir liegt ein Projekt am Herzen, zu dem die Kampagne vom letzten Jahr besonders gut passt – das Motto hieß ja „Positiv zusammen leben“. Denn ich finde, Langzeitpositive wie auch ihre Angehörigen brauchen mehr Möglichkeiten zur Biografiearbeit, mehr Raum für Gespräche. Kränkungen und Verletzungen haben bei manchen seit 20, 25 Jahren Spuren in der Biografie hinterlassen. Und sie müssen Scham- und Schuldgefühle bewältigen, um nicht depressiv zu werden. Es ist auch wichtig anzuerkennen, was man in schwierigen Zeiten durchgestanden hat und wo es persönliche Erfolge gab.

 

Wie habt ihr mit der HIV-Infektion leben gelernt?

Michael: Ich hatte recht schnell wieder eine gewisse Unbefangenheit dem Leben gegenüber gewonnen. Mir hat da einfach geholfen, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Und im Älterwerden habe ich begriffen, dass niemand von uns unschuldig durchs Leben kommt. Seit ich mir nicht mehr vorwerfe, dass ich mich mit HIV angesteckt habe, spielt die Infektion eine weniger belastende Rolle. Ich bin sogar stolz darauf, dass ich damals überhaupt wagte, offensiv und sexuell schwul zu leben, denn die Angst vor einer Ansteckung mit HIV hatte mein Coming-out verzögert. Heute weiß ich: Das Leben gibt es nicht ohne Risiko. Ich wollte lebendig sein und etwas erleben, auch um den Preis der Infektion.

Marcel: Bei mir nimmt HIV manchmal noch viel Raum ein. Zum Beispiel hatte ich bis vor wenigen Monaten noch recht viele körperliche Probleme. Erst seit Beginn der medikamentösen Therapie geht es mir wieder besser. Wichtig ist für mich vor allem, ob die Infektion in meinem Leben eine gute oder schlechte Rolle spielt. Und da stelle ich fest: Ich habe auch viel gelernt, seit ich infiziert bin, habe viele Menschen kennengelernt. Und ich bin viel reifer geworden, habe begriffen, wie verletzlich das Leben ist. Krankheiten gehören für mich mittlerweile zum Leben dazu.

 

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Marcel: Dazu habe ich vor kurzem in meinem Blog Folgendes geschrieben: Ich kann heute nicht wissen, wie mein Leben in zwanzig, dreißig Jahren aussieht. Es kann noch so viel passieren. Hauptsache, ich bin dabei glücklich und akzeptiere mich.

Michael: In Zukunft soll HIV in meinem Leben weniger Raum einnehmen. Privatleben, Sport, Freunde sind jetzt dran. Da ist allerdings doch noch ein Projekt, das mich reizt: Ich würde gern die Biografien von Langzeitpositiven auf Video oder Audio dokumentieren. Dazu habe ich Lust und vielleicht auch bald die Zeit.

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Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in „Annäherungen – Ein Lesebuch zur Arbeit in Aidshilfen“, ab S. 31, Deutsche AIDS-Hilfe 2012. (pdf)

Das Lesebuch kann als Broschüre kostenlos bei der DAH bestellt werden: Bestellnummerr: 027010

Vielen Dank an die DAH für die Genehmigung zur Übernahme des Interviews in meinem Blog.


Unsere Geschichte sind unsere Geschichten

November 5, 2011

–   Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns? –

Wenn ich mich an die nun 30 Jahre von HIV und Aids erinnere, spüre ich als erstes, welch mächtigen Einfluss HIV auf mein Leben genommen hat. Durch HIV kam ein Faktor ins Leben, den weder ich noch andere schwule Männer ignorieren konnten. Wir mussten eine Form des Umgangs und des Arrangements mit diesem Virus finden. Das Virus wurde eine fremdbestimmende Einflussgröße, welche Autonomie und Eigenart zu beherrschen drohte, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.

Erinnerungen sind scheu. Sie stellen sich nicht auf Kommando ein. Erinnern ist nicht planbar. Erinnerungen kommen spontan. Manchmal überfallen und erschüttern uns Erinnerungen, wenn wir gar nicht damit rechnen: Untrennbar sind Erinnerungen mit Emotionen verbunden.

Wir spüren, dass das, was wir erinnern, immer emotional besetzt ist. Überhaupt erinnern Menschen nur, was emotional bedeutsam war im Leben. Es sind oft Begegnungen mit Menschen, bei denen wir uns wohl, geborgen und sicher gefühlt haben, mit denen wir Nähe erlebt haben, eben besondere, herausragende Momente im Leben.

Wir erinnern Erlebnisse, die selbstwertstärkend waren, wo wir uns angenommen und verstanden gefühlt haben – aber eben auch genau gegenteilige Erfahrungen: Situationen von Bedrohung, Gefahr und kränkender Ablehnung. Wir erinnern Brüche und Wendepunkte im Leben, Ereignisse, die starke Veränderungen ausgelöst haben, wo etwas Neues in unser Leben hineingekommen ist.

Wenn wir uns erinnern, vergewissern wir uns dabei unserer Identität und der Kontinuität unseres Lebens. Wie bedeutsam, ja existenziell die Fähigkeit zur Erinnerung für unser Identitätserleben ist, wird deutlich, wenn Menschen durch ein Hirntrauma, Demenz oder andere Ursachen ihr Erinnerungsvermögen verlieren: Sie wissen dann nicht mehr, wer sie sind, sie sind beziehungslos und verloren in der Zeit.

Unsere Erinnerungen sind also unser Anker und unsere Verortung in der Welt und in unserer Lebensumgebung, die sich permanent verändert. Durch das Bewusstsein über den eigenen Lebensweg erhalten wir die Gewissheit und Sicherheit, wo wir hingehören, wo wir zuhause und verwurzelt sind. Erinnerung ist Halt und Orientierung. Wir identifizieren uns mit dem, was wir erlebt haben: Es ist unsere Geschichte, die wir erzählen können und es ist unser Biografie, unsere Lebensgeschichte, unsere Einzigartigkeit.

Für ein selbstbewusstes Älter-werden hat  in meinem Verständnis eine zentrale Bedeutung, möglichst umfassend zu allem, was ich erlebt habe und was ich handelnd getan habe, sagen zu können: „Ja, so war es – genau so war es!“

Angesichts von HIV und Aids wird es nun schwer, rückblickend auszuhalten, wie es war. Es sind doch viele Erinnerungen von starker und existenzieller Bedrohung: HIV machte Angst, die homophobe, sexualfeindliche Gesellschaft machte Angst – und gleichzeitig erlebten viele von uns, wie Partner, Freunde, Weggefährten, Menschen in unserem Umfeld, starben– oder auch wir selber durch HIV krank wurden.

Ob als HIV-Positiver, HIV-Negativer oder Ungetesteter: es ging ums Überleben in einer bedrohlichen und feindlichen Welt. Der Solidarität anderer konnten wir nie selbstverständlich gewiss sein. Unsere Erinnerungen sind oft bittere und schmerzhafte Erfahrungen.

Wie kann man überhaupt mit der Fülle all dieser Erfahrungen leben? Als ich einen über 60-jährigen schwulen Langzeitpositiven und HIV-Aktivisten der ersten Jahre einmal fragte: „Was machst du nur mit all deinen vielen Erinnerungen?“, antwortete dieser nach einem kurzen Moment des Innenhaltens spontan: „So schnell wie möglich vergessen!“

Diese Antwort stimmt mich nachdenklich. Ja, es ist eine Wahrheit, dass es vieles in unserem Leben gibt, an das wir uns nicht gerne erinnern, weil der Schmerz immer noch so groß ist – und wahrscheinlich auch bis an unser Lebensende groß bleiben wird.

Das ist glücklicherweise nur die eine Seite der Medaille.

Denn Not schweißt auch zusammen und angesichts der früher auszuhaltenden Not gab es oft  unerwartete Hilfe und Solidarität von außen, und es gab einen sich immer stärker organisierenden Zusammenhalt von innen. Es gab nicht nur die persönlichen Niederlagen, wenn Freunde und Weggefährten an Aids starben, es gab auch Siege, wo wir uns als starke Gemeinschaft erlebten, wo wir uns in der Gesellschaft behaupteten, Einfluss und Macht errungen und unsere Realität in die öffentliche Wahrnehmung gerückt haben.

Zum Wesen der Erinnerung gehört die Nachdenklichkeit. Beim Erinnern blicken wir aus einer veränderten Perspektive und aus zeitlicher Distanz auf das Erlebte zurück. Indem wir Erinnerungen teilen und mitteilen, bewerten wir darin das Erlebte immer wieder neu, können es in einen größeren Zusammenhang stellen und die Bedeutung der Ereignisse neu bewerten.

Und wenn wir erst einmal anfangen, uns zu erinnern, dann erinnern wir auch immer mehr! Auch vergessen geglaubte Erfahrungen werden wieder wach. Sich zu erinnern braucht Zeit – und das Erinnern widersetzt sich damit hartnäckig einem Zeitgeist, der auf Professionalität, Ergebnisproduktion und Effektivität fokussiert ist. Wer sich erinnert, geht eben nach „innen“, geht auf eine Zeitreise in seine innere Welt. Vielleicht ist das Erinnern auch deshalb eher dem Alter vorbehalten, weil dann – befreit von beruflichen Zwängen –  mehr Zeit da ist, sich zu erinnern. Gleichzeitig entsteht ein Bedürfnis, in der Fülle der eigenen Biografieerfahrungen den Überblick nicht zu verlieren: Wir finden eine Struktur, definieren Episoden und Abfolgen, konzentrieren Erlebtes in erzählbaren Geschichten.

Brauchen wir also eine neue Kultur des Erinnerns?

Ich vermag nicht zu benennen, ob wir überhaupt eine „alte“/bisherige Kultur des Erinnerns leben. Unsere Geschichte sind unsere Geschichten – und Geschichten zu erzählen wird häufig  als verstaubt und unangebracht sentimental abgewertet. Wo gönnen wir uns denn im Alltag die Zeit, uns Geschichte und Geschichten zu erzählen? Wenn aber in unserer Geschichte unsere Identität liegt, vernachlässigen wir uns selber, wenn wir unsere Geschichten nicht wertschätzen und erzählen. Es lohnt, die Erinnerungen einzuladen. Erinnerungen sind stolz: Sie kommen nur zu denen, die ein offenes Ohr mitbringen.

Ich glaube, wir brauchen zunächst eine Sensibilität und ein Bewusstsein für den Wert des Erinnerns. Unsere Erinnerungen sind ein Schatz an Erfahrungen. Schließlich leben wir noch – und verfügen offensichtlich über Fähigkeiten und Lebensweisheiten, die dieses Überleben zustande gebracht haben.

Und das gilt nun sowohl für die einzelne Person, als auch für uns als Gemeinschaft.

Michael Jähme

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Dieser Impulsvortrag war mein Beitrag zur DAH-Präventionskonferenz  „Bis hierher – und noch weiter…“, 4.-6.11.2011 in Berlin im Workshop 1.3. Neues AIDS – alte Bilder / „Es sterben doch immer noch so viele!“

Die Frage, ob es einer neuen Kultur des Erinnerns bedarf, wurde aufgeworfen in der Diskussion meines Vortrags bei den Münchner AIDS-Tagen 2010: „Langzeitpositive und schwule Senioren sind Zeitzeugen vom Leben mit HIV„.


Mein Leben mit HIV ist ein Schatz an Erfahrungen

Juni 28, 2010

Älterwerden mit HIV als schwuler Mann: Mit diesem Thema beschäftigt sich Michael Jähme von der AIDS-Hilfe Wuppertal seit längerer Zeit. In Fresh spricht er über seine persönlichen Erfahrungen.

Warum treibt Dich dieses Thema so an?

Ich bin jetzt 51 Jahre alt. So alt zu werden hatte ich mir nie vorstellen können. Lange ging es darum, einem überlebten Jahr ein weiteres überlebtes Jahr hinzuzufügen. Aber inzwischen bieten die wirksamen Therapien große Sicherheit. Einfach nur zu überleben, reicht mir als Lebenssinn nicht mehr. Erst seit wenigen Jahren, wo die Angst, bald krank zu werden, ganz verschwunden ist, kann ich erstaunt Rückschau halten und anfangen zu verstehen, was ich da eigentlich überlebt habe, was alles passiert ist und was diese Erfahrungen und Erlebnisse mit mir gemacht haben. Schließlich habe ich meine Diagnose zu einer Zeit bekommen, als die AIDS-Hysterie sehr bedrohlich war. Ich möchte verstehen, was in diesen Jahren passiert ist und möchte meinen Erlebnissen Bedeutung geben. Für mich ist das nötig, um nicht nur körperlich, sondern auch psychisch gesund alt zu werden mit HIV.

1990 hast Du Deine Diagnose bekommen, Du lebst also bereits 20 Jahre mit HIV. Gibt es nach wie vor staunende Blicke, wenn Du Dich als Langzeitpositiver zu erkennen gibst?

Ja, das ist so. Besonders bei TeilnehmerInnen von Fortbildungsveranstaltungen für Krankenpflege und Altenpflege erlebe ich ein Erstaunen, dass man inzwischen mit HIV alt werden kann. Dann ist das Interesse sehr groß, mehr über die medizinischen Therapiefortschritte zu hören. Und auch dass eine wirksame Therapie zur Folge hat, quasi nicht mehr infektiös zu sein, überrascht viele. Viele sagen dann: Das muss mehr bekannt gemacht werden!

In Gesprächen mit schwulen Männern die heute so um die 40-50 Jahre alt sind, hast Du viele „HIV-typische Spuren“ in deren Biographien registriert, die auch seelische Narben hinterlassen haben. Was sind Deine Traumata und Narben?

Es ist einfach ein Trauma, jahrelang die Unsicherheit aushalten zu müssen: Wie lange überlebe ich? Wie lange geht es gut? Wie lange bleibe ich gesund? Bei aller Emanzipation und allem Lebenswillen war diese Angst vor dem Tod doch knallharte Realität. Die jahrelange Todesbedrohung durch HIV hat chronisch am Selbstwertgefühl genagt. Es ist so unfassbar, dass wir das überlebt haben und heute die Zeit wirksamer Therapien erleben! Mich schmerzt der Tod von Freunden, die mir heute als Weggefährten im Älter-Werden fehlen. Und für die Gesellschaft waren wir HIV-Positiven bestenfalls geduldet, nie voll akzeptiert. Die bis heute andauernden Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen von Menschen mit HIV sind ungeheuerlich und empörend. Dazu kommt noch die immer latent vorhandene Homophobie in der Gesellschaft. Es ist einfach anstrengend, über Jahre hinweg dem allen Widerstand zu leisten und sich zu behaupten. Es empört mich, dass die Lebensleistung meiner Generation schwuler Männer nicht breit gesellschaftlich gesehen, gewürdigt und anerkannt wird!

Beim Umgang mit den belastenden Erlebnissen entwickelt jeder seine individuelle Strategie. Welchen Weg der Verarbeitung bist Du gegangen?


Mein Weg ist es, über das zu reflektieren, was mein Leben beeinflusst hat und was mich geprägt hat. Es ist eine schmerzhafte Wahrheit, dass HIV so viel Traurigkeit und Angst ins Leben gebracht hat. Es braucht Zeit, sich dessen bewußt zu werden. Und Mut. Seit längerer Zeit mache ich eine Psychoanalyse, in der ich das alles nach und nach entdecke und wo ich Unterstützung erlebe und Raum bekomme, dies entdecken zu können. Zum psychisch gesund alt werden mit HIV gehört für mich, all diese schrecklichen, schmerzhaften und kränkenden Erlebnisse beim Namen zu nennen und von meinem Gegenüber Verständnis und ein offenes interessiertes Ohr zu erfahren. Wir müssen über die wirklich wichtigen Dinge in unserem Leben reden. Dann versteinern wir nicht in unseren Traumata und Schmerzen, sondern öffnen uns großer Lebendigkeit, Lebensfreude und Lebenskraft.

Du forderst: Schwule Senioren, mit HIV und ohne HIV, sollen als Zeitzeugen angesehen und anerkannt werden und sich auch selber als solche begreifen. Was konkret ist dafür von wem zu tun?


Die Schuldzuweisungen müssen aufhören, die Stigmatisierung und Diskriminierung muss aufhören! Wertschätzung und Würdigung ist Voraussetzung dafür, dass Menschen, die wie ich nun schon Jahrzehnte mit HIV leben, einen offenen Raum vorfinden, um von ihren Erlebnissen erzählen zu können, wenn sie es denn wollen. Das ist eine Forderung an die Gesellschaft. Dann gibt es etwas, was jeder Einzelne tun kann: Wir Zeitzeugen haben etwas erlebt, was lohnt, im gesellschaftlichen Gedächtnis zu erhalten. Unsere Erfahrungen sind ein Schatz. Wir Langzeitpositiven und schwulen Senioren müssen uns dessen bewußt werden. Aus Bewußtsein kann Selbstbewußtsein entstehen. Und dann wären wir auch eher bereit, als Zeitzeugen sichtbarer werden. Vielleicht wäre es für manchen auch immer noch ein Outing mit HIV, für das man Mut braucht. Von uns muss die Bereitschaft kommen und von außen muss das Interesse kommen.

Dieses Interview mit Michael Jähme führte Christian Scheuß für das Magazin FRESH. Es wurde veröffentlicht in der Ausgabe Juli 2010. Hier als Blogbeitrag die ungekürzte Fassung.

Siehe auch: Langzeitpositive und schwule Senioren sind Zeitzeugen vom Leben mit HIV


Langzeitpositive und schwule Senioren sind Zeitzeugen vom Leben mit HIV

März 8, 2010

Vortrag von Blogautor Michael Jähme auf den Münchner-AIDS-Tagen am 6.März 2010 im Rahmen des Seminars „Ältere MSM – Erfahrung zählt (nicht?)!“

Zeitzeugen vom Leben mit HIV – Lanzeitpositive und schwule Senioren haben eine Geschichte mit HIV, sind Geschichte mit HIV und verkörpern Geschichte mit HIV.

1. Einführung

Seit dem Herbst 2007, besonders aber seit dem Jahr 2008, hat die Tatsache, dass immer mehr Menschen mit HIV ein Lebensalter von 50 Jahren und mehr erreichen, die Aufmerksamkeit von Medizinern und Öffentlichkeit erreicht. Das Älter-Werden mit HIV passierte schon immer, aber erst, als Mediziner verkündeten, dass auch mit einer HIV-Infektion eine (fast) normale Lebenserwartung zu erreichen ist, wuchs auch das öffentliche Bewusstsein dafür, dass Langzeitpositive in die Jahre kommen. HIV-Mediziner haben dabei das Lebensalter von 50 definiert als die Marke, ab der man als „alt“ gilt.

Nachdem im Jahr 2006 in den USA die viel beachteten Ergebnisse der ROAH-Studie (Research on Older Adults living with HIV) bekannt wurden, startete im 3. Quartal 2008 unter Führung der DAGNÄ auch in Deutschland die auf 2 Jahre angelegte Studie 50/2010 zur Gesundheit von HIV/AIDS-Patienten, die älter als 50 Jahre sind.

Professor Jürgen Rockstroh prognostizierte unlängst auf der 12. Europäischen Aids-Konferenz in Köln, dass im Jahr 2015 bereits jeder zweite HIV-Infizierte über 50 Jahre alt sein wird.

Diese Entwicklung deckt sich mit meinen Beobachtungen in der AIDS-Hilfe Wuppertal. 27% der HIV-Positiven, die zu uns in Kontakt stehen, sind derzeit älter als 50 Jahre. Und 14 % der Menschen mit HIV im Kontakt mit der AIDS-Hilfe Wuppertal leben länger als 20 Jahre mit ihrer HIV-Diagnose. Einige davon haben schon 1983/84 ihre HIV-Diagnose bekommen.

Als ich im Jahr 1990 meine HIV-Diagnose bekam, galt jemand, der länger als 5 Jahre von seiner HIV-Diagnose wusste, als Langzeitpositiver, für den es auf Positiventreffen eigene Workshops gab. Heute ist es dagegen nicht mehr ungewöhnlich, 20 Jahre und länger um seine HIV-Infektion zu wissen.

Im gleichen Zeitraum gab es einen rasanten therapeutischen Fortschritt: Über die Behandelbarkeit erst der opportunistischen Infektionen in den 80ern, dann direkt der  HIV-Infektion mit antiretroviralen Medikamenten und ab 1996 mit der kombinierten HAART ist es gelungen, nicht nur Lebenszeit zurückzugewinnen, sondern auch die Infektiosität effektiv und nachhaltig unter Kontrolle zu bringen. Bei rechtzeitiger Diagnose und kompetenter ärztlicher Begleitung ist das Vollbild AIDS heute eine weitgehend vermeidbare Folge der HIV-Infektion. Menschen mit HIV können heute länger leben, länger gesund bleiben und durch die effektiv verminderte Infektiosität auch Sexualität wieder weitgehend normal leben.

Menschen mit HIV und AIDS erlebten diese Veränderungen am eigenen Leib. Die Vorannahme des mit der HIV-Diagnose angekündigten frühen Todes musste viele Male den veränderten therapeutischen Möglichkeiten angepasst werden. Das bedeutet, dass es für Menschen mit HIV erforderlich war und ist, ihre individuellen Lebenskonzepte und Selbstbilder zu verändern und stetig den sich wandelnden Realitäten anzupassen.

Die gesellschaftliche Einstellung zu HIV ist dagegen bemerkenswert renitent und vollzieht die von den HIV-Positiven selbstverständlich zu leistenden Anpassungen nicht. Tagtäglich erleben Menschen mit HIV, dass sie immer noch als „todgeweiht“ und „gefährlich“ angesehen werden. Der Mythos AIDS scheint ungebrochen.

Dabei wird er nicht nur von der Allgemeinbevölkerung und den Medien, sondern auch von AIDS-Fachkräften, Ärzten und auch von einigen HIV-Positiven selber fleißig kultiviert, die meinen, damit effektiv zur Verhinderung von Neuinfektionen beizutragen. Wer den therapeutischen Fortschritt verdrängt und verschweigt, chronifiziert damit aber gleichzeitig die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV und Aids.

Für Langzeitpositive ist es unerträglich, dass eine bessere Behandelbarkeit ihrer Krankheit nicht freudig begrüßt wird, sondern in der Regel als Gefahr für die Primärprävention medial kommentiert wird. Wie keine andere chronische Krankheit wird HIV auch heute immer noch meist vom Ende her gedacht, nämlich vom Tod her.

2. Schwul sein und alt werden mit HIV

Wer heute älter als 40 oder 50 Jahre ist und von Jugend an schwul lebt, hat – unabhängig davon, ob selber HIV-positiv oder nicht – vielfach HIV-typische Spuren in seiner Biografie aufzuweisen – und bei vielen sind es schmerzvolle Narben und Wunden, herrührend von Verlusten, Abwertungen und Entwertungen, Kontaktabbrüchen und Zurückweisungen.

Dazu die Schilderung einer Begebenheit:

Im September 2009 hielt ich vor einer Gruppe meist älterer schwuler Männer einen Vortrag über das Älter-Werden mit HIV und über die heute wieder langen Lebensperspektiven und sprach aber auch die Traumatisierungen an, die viele in den zurückliegenden Jahren erlebt haben oder miterleben mussten.

Im Anschluss entwickelte sich ein Gespräch mit einem knapp 60-jährigen Mann. Meine Worte hatten alte Erinnerungen in ihm wachgerufen.

Zunehmend emotionaler und mit den Tränen ringend – berichtete er von einem Erlebnis aus der Mitte der 80er Jahre: Die Familie eines Freundes rief ihn an und sagte, ihr kranker Sohn hätte immer wieder seinen Namen gerufen und gewünscht, ihn zu sehen. Diesen Freund hatte der Mann einige Zeit nicht gesehen. Der Freund war inzwischen schwer krank und hatte mit HIV im Vollbild AIDS diagnostiziert eine Zeit im Krankenhaus verbracht. Auf eigenen Wunsch war er zum Sterben aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die Eltern hatten ihn in ihre Wohnung aufgenommen. Aber alle Familienangehörigen hatten derart panische Angst, sich mit HIV anzustecken, dass keiner sich traute, den schwerkranken sterbenden Sohn und Bruder, wirklich zu versorgen. Keiner traute sich, das Krankenzimmer zu betreten. Sie warteten quasi, dass er sterben würde.

In seiner Not rief der Kranke immer wieder den Namen dieses Mannes. Die Familie hörte das und rätselte, wen er meinen könne. Irgendwie machten die Familienangehörigen ihn ausfindig. Als er den Anruf bekam, brach der Mann sofort zu einem Besuch auf. In der Wohung angekommen, musste er feststellen, dass seinem Freund von der Tür aus mit einem Besen auf einem Tablett Essen und Trinken ans Bett geschoben worden war. Keiner traute sich zu ihm hin. Der Freund war völlig geschwächt, dehydriert und hygienisch verkommen. Inzwischen war er auch zu schwach geworden, sich die Sachen vom Tablett zu nehmen oder zur Toilette zu gehen. Der jetzt knapp 60-jährige erinnert sich, wie er sofort zu seinem sterbenden Freund trat, ihn versorgte und zu trinken gab und wie dieser dann gestorben ist.

Das Leiden seines Freundes, sein Verlassen-Sein im Sterben, dieses Leid ist in seinem Bewusstsein immer noch stark und lebendig. „Mit wem kannst Du denn über diese Erlebnisse sprechen?“, fragte ich den bald 60-Jährigen. „Ach, das interessiert doch keinen! Da fragt doch keiner nach, das will doch keiner hören!“, winkte er ab.

Ich stelle die Frage: Warum interessiert dies keinen? Warum will dies keiner wissen? Und wenn die Lebenserfahrungen von alten Schwulen und Langzeitpositiven heute eine öffentliche Beachtung bekommen, dann steht auch dies meist subtil im Dienst der Primärprävention: Seht, wie schlimm HIV sein kann! Passt auf, dass euch dieses Schicksal nicht auch ereilt. Schützt euch!

Ich spüre noch kein ehrliches und direktes Interesse an den Lebenserfahrungen der Generation schwuler Männer, die die volle Wucht der AIDS-Krise erlebt, miterlebt und durchlebt haben. Ein ehrliches Interesse an ihren Lebenserfahrungen wäre heilsam und würde ihre Lebensleistung anerkennen, würdigen und wertschätzen.

Zum Welt-AIDS-Tag wird an vielen Orten an die an AIDS Verstorbenen erinnert. Die Langzeitpositiven und die Zugehörigen stehen dabei im Schatten der Verstorbenen. Ihre Tragödie wird immer noch übersehen. Sie findet still statt, nämlich in den Praxen von Psychotherapeuten und Psychologen, wo nämlich die Traumata Gehör finden, wo Interesse und Anteilnahme erfahren wird.

Der Mensch besteht nämlich nicht nur aus dem älter werdenden Körper, dessen Komorbiditäten und möglichen Alterskomplikationen die Mediziner fast ausschließlich betrachten. Die psychischen und psychosozialen Dimensionen des Älter-Werden mit HIV sind noch weitgehend unerforscht und fachlich wenig aufgearbeitet.

Im Älter-Werden möchte ich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch gesund bleiben und Lebensqualität erfahren. Zum Älter-Werden gehört auch, einen Lebensrückblick zu halten und dem Erlebten Sinn und Bedeutung zu geben. Für ein Selbstbewusst-alt-werden ist es sehr bedeutsam, anderen von seinen Erlebnissen und Erfahrungen mitzuteilen und bekräftigen zu können: „Ja, so war es!“

Warum bleibt dieser knapp 60-jährige Mann, von dem ich vorhin sprach, so alleine mit seinen Erlebnissen? Vielleicht, weil sie kaum auszuhalten sind, weil sie so emotional sind, weil man als Zuhörer hilflos ist angesichts seines erlebten Leides.

Aber genau darum geht es: Diese Erlebnisse mit ihm zusammen auszuhalten, sie mit anzuhören und mit auszuhalten, damit er sagen kann: „Ja, so war es und es war schlimm.“

Auch unter HIV-Positiven, unter älteren Schwulen, ist das Interesse an diesen belastenden und schmerzhaften, aber sich tief in die Seele eingeprägten Erlebnissen nicht selbstverständlich anzutreffen. Es rührt zu sehr an die eigenen Erlebnisse – und die angestrengt beherrschten eigenen Emotionen.

Und wir finden uns wieder in einer Irritation: Wir freuen uns über unser Leben, darüber, dass wir unser Leben nicht an HIV verloren haben sondern heute wieder einen weiten Lebenshorizont haben. Gleichzeitig lassen uns aber unsere Erlebnisse nicht los. Lebensfreude und Trauer über erlebtes Leid existieren Tür an Tür. Und mal springt die eine Tür auf, mal die andere. Gesund bleibt, wer den Wechsel zulässt, wer die eigene Emotionalität nicht unterdrückt.

Mein Anliegen ist es, dass wir einen angemessenen Umgang finden, unsere Geschichte zu erzählen, weder dramatisierend noch beschwichtigend.

Hierzu ein Vergleich: Auch nach dem 2. Weltkrieg war es schwer, Worte für das Erlebte zu finden. In den 50er und 60er Jahren schaute man nach vorne, es herrschte Aufbruchstimmung, es ging voran und es ging aufwärts. Nach dem Schrecken des Krieges sollte wieder Freude da sein dürfen. Das erlebte Leid wurde verdrängt.

Unsere Gesellschaft hat die Erfahrung gemacht, dass man belastende und traumatisierende Erlebnisse mit Schweigen und Verschweigen nicht bewältigen kann. Das Erlebte muss ausgesprochen, anerkannt und gewürdigt werden als prägender Teil der eigenen Lebensgeschichte.

Für schwule Männer geht es darüber hinaus aber auch um ihre kollektive Geschichte. Mich befremdete es sehr, dass weder Kanzlerin Merkel, noch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, noch die Direktorin der BZgA Elisabeth Pott in ihren Grußworten zum 25-jährigen Bestehen der DAH die kollektive Lebensleistung schwuler Männer explizit benannten. Und auch in der Rede von Kanzlerin Merkel beim Welt-Aids-Tag-Empfang der DAH am 13.11.2008 blieb die dezidierte Anerkennung der kollektiven Lebensleistung schwuler Männer in der Aids-Krise aus. Die Lebensleistung dieser Generation wird zwar gesehen, und das wird auch zu verstehen gegeben, aber sie wird nicht klar und eindeutig benannt.

Schwule werden weit mehr als Verursacher und Motor der HIV-Epidemie dargestellt, als dass ihre – unsere – Leistung zur Bewältigung der Aids-Krise öffentlich gewürdigt und anerkannt wird. Auch diese Form der Homophobie ist traumatisierend und stigmatisierend.

Mit den Jahren und Lebensjahren sind wir schwulen Senioren und Langzeitpositiven zu Zeitzeugen geworden. Wir sind Augenzeugen und Zeitzeugen der Zeit ohne HIV-Therapie, einem Zeitabschnitt, der definitiv Vergangenheit ist. Das gibt unserem Leben als schwule Senioren einen besonderen Wert.

„Zeitzeuge“ ist dabei eher ein Begriff, der von außen an einen Menschen herangetragen wird, wenn man etwas gesellschaftlich Bedeutsames erlebt hat, das zu hören und zu bewahren sich lohnt und erstrebenswert ist. Singuläre persönliche Erlebnisse und singuläre Zeugenschaft alleine vermag aber nie, die Wirklichkeit von früher in ihrer ganzen Breite zu vermitteln. Jeder hat immer nur eine Facette, einen Ausschnitt der vergangenen Realität erlebt. Erst die Berichte einer größeren Zahl von Zeitzeugen ergeben ein immer umfassenderes und vollständigeres Bild von dem, was damals geschah und wie Menschen dies erlebt haben.

Dafür braucht es aber kollektives Interesse und kollektive Zuwendung zu den Menschen, die Zeitzeugen geworden sind. Und sei es zunächst erst einmal das Interesse des schwulen Kollektivs und der Langzeitpositiven untereinander.

Es ist überfällig, diese Kulturarbeit systematisch zu beginnen – und sie hätte auch als positiven Effekt einen therapeutischen Einfluss für die durch HIV-Erlebnisse belasteten und traumatisierten schwulen Senioren. Wir werden alt und wir werden einmal altersbedingt sterben. Es bleibt keine Zeit mehr zu warten. Unsere Geschichte und unsere Geschichten müssen jetzt dokumentiert werden. Solange wir noch leben!

Ich bin stolz auf das, was schwule Männer vor mir an Pionierarbeit in der Aids-Krise geleistet haben. Ich bin stolz darauf, 20 Jahre mit HIV zu leben und aller Stigmatisierung und Diskriminierung getrotzt zu haben, psychisch stark geblieben zu sein. Ich weiss aber auch, wie anstrengend es ist und wie müde es macht, ständig diesem Gegenwind Widerstand zu leisten.

3. Fazit

Es ist an der Zeit, dass schwule Senioren, mit HIV und ohne HIV, als Zeitzeugen angesehen und anerkannt werden und sich auch selber als solche begreifen. Es muss ein unterstützend-förderliches soziales Klima entstehen, damit sie von ihren Erlebnissen wahrhaftig berichten können und ebenso wahrhaftiges Interesse an ihrer Lebensgeschichte erfahren. Derzeit bereits vorhandene Zeitzeugenberichte sind nur vereinzelt und weit gestreut in verschiedenen Publikationen zu finden und schwer aufzuspüren.

Zeitzeugenschaft vom Leben mit HIV muss daher als systematische Kulturarbeit gefördert und betrieben werden. Der deutsche Weg in der AIDS-Krise gilt weltweit als vorbildliches Modell für niedrige Neuinfektionszahlen und wirksame Unterstützungsstrukturen für Menschen mit HIV. Schwule Männer traf die AIDS-Krise mit voller Wucht. Langzeitpositive und schwule Senioren können mit ihren Lebengeschichten Auskunft geben über das schwierige Leben jener Zeit, als eine HIV-Diagnose noch den angekündigten Tod bedeutete und das Sterben vieler Freunde und Bekannte den Lebensalltag prägte. Diejenigen, die diese Epoche miterlebt haben, tragen häufig unbewusst wirkende Spuren dieser Vergangenheit in sich. Für ein seelisch gesundes Alt-Werden ist es förderlich, wenn verdrängte belastende und traumatisierende Erlebnisse in einem von Verständnis und Interesse geprägten sozialen Klima zur Sprache kommen können.

Wir müssen erkennen: Wir haben eine Geschichte mit HIV, wir sind Geschichte mit HIV und wir verkörpern Geschichte mit HIV.

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Empfehlenswerte themenverwandte Literatur:

„Langzeitpositive – Aspekte des longterm Survival“, DAH AIDS-Forum Band XX,  Hrsg.: Peter Wiesner, November 1995

Wurzeln und Flügel – Zur Psychologie von Erinnerung und Sehnsucht, Vortrag von Verena Kast, in: „Sehnsucht und Erinnerung – Leitmotive zu neuen Lebenswelten“, Hrsg.: Christina Neuen, Walter-Verlag 2006

25+ – 25 jaar hiv en aids in de Nederlandse homoscene“, Hrsg.: Poz&Proud zusammen mit HIV Vereniging Nederland (HVN), 2007, (in niederländischer Sprache)

Oud worden met HIV – Gezondheid en Ziekte van oudere HIV-Patienten: Een Inventarisatie, Hrsg.: Amsterdam Aids Fond, 2009, (in niederländischer Sprache)

Die dunklen Schatten der Vergangenheit – Ältere Menschen in Beratung, Psychotherapie, Seelsorge und Pflege, Hartmut Radebold, Klett-Cotta, 2005

Homosexualität und Alter – Informationen für Beschäftigte in der Altenpflege, Hrsg.: Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit, Dezember 2009

Frankfurter Resolution zur Verbesserung der Lebens- und Pflegesituation von gleichgeschlechtlich liebenden, HIV-infizierten und transsexuellen Seniorinnen und Senioren, 11.07.2009

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Linksammlungen von ausgewählten deutsch- und englischsprachigen Publikationen zum Thema:

Älter werden mit HIV – Publikationen 2009

HIV und Alter – Publikationen bis 12 / 2008

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In Memoriam“ – Zur Erinnerung an unsere FreundInnen, Liebhaber und KollegInnen, die an den Folgen von Aids verstorben sind.

Wikipedia: alphabetical list of people who are known to have been infected with HIV




„Ich erlebe mich nicht mehr als todgeweiht“

November 30, 2009

Michael Jähme ist seit 20 Jahren mit HIV infiziert. Nicht die Krankheit sieht er heute als Hauptproblem, sondern die Ausgrenzung. Michael Jähme will mit seiner Lebensfreude Mut machen. Auch zur Offenheit im Umgang mit HIV. Erik Schweitzer von der Westdeutschen Zeitung (WZ) sprach mit ihm aus Anlass des Welt-AIDS-Tags am 1. Dezember.

WZ: Welche Botschaft wollen Sie am Welt-Aids-Tag vermitteln?

Michael Jähme: Dass sich das Leben mit HIV radikal geändert hat. Die Öffentlichkeit hat noch ein Bild von HIV, das aus der Steinzeit stammt, geprägt vom Leiden und Sterben. Ein Film wie „Philadelphia“ wird leider immer noch an Schulen gezeigt. Und die Aidshilfe ist geprägt vom TV-Spot mit Hella von Sinnen – „Rita, was kosten die Kondome?“ Das hat sich eingebrannt, auf dem Niveau sind viele stehengeblieben.

Ist HIV denn keine tödliche Krankheit mehr?

Jähme: Nein. Ich lebe doch noch.

Viele Menschen leben mit tödlichen Krankheiten.

Jähme: Warum nur denkt man ausgerechnet bei HIV immer vom Ende her? Das macht man bei keiner anderen chronischen Erkrankung. Dabei ist HIV genau das: eine chronische Erkrankung. Man kann lange damit leben, hat fast eine normale Lebenserwartung. Man könnte auch sagen: Diabetes ist tödlich, oder Asthma oder Neurodermitis. Ich will da nichts verklären: Es gibt natürlich immer ein paar Leute, die schon früh Probleme haben. Das Gros der HIV-positiven Menschen lebt aber relativ normal.

Dann ist alles nur halb so schlimm?

Jähme: Jedenfalls steht nicht mehr das Medizinische als Problem im Vordergrund, sondern das Soziale. Der Umgang in der Gesellschaft mit mir als HIV-Infiziertem – das ist das Problem. Es heißt immer noch, man kriegt das nur, wenn man schwul ist, sich prostituiert, Drogen nimmt oder auf den Strich geht. Das haben die Medien Anfang der 80er so gesetzt, das hat sich eingebrannt. Ich erlebe mich heute aber nicht mehr als todgeweiht. Und auch nicht mehr als gefährlich. Dank der Therapien kann ich eigentlich niemanden mehr anstecken. Meine Viruslast ist unter der Nachweisgrenze.

Wie gehen Sie mit diesem Stigma um?

Jähme: Es braucht ein verdammt dickes Fell. Und es macht müde, permanent im Gegenwind der Gesellschaft zu leben, die einerseits Probleme mit HIV hat und dann auch noch mit schwulen Männern.

Waren Sie auch so gelassen, als bei ihnen 1990 die Diagnose unverrückbar fest stand?

Jähme: Nein, es ging mir schrecklich. Ich lag obendrein mit einer Hepatitis-A-Infektion im Krankenhaus und fragte mich, was mich wohl schneller unter die Erde bringt. Aber ich habe innerhalb der ersten Stunden nach der Diagnose zwei Entscheidungen getroffen. Erstens: Das ist zu heftig, um alleine damit klar zu kommen. Meine Freunde sollten lernen, damit umzugehen. Zweitens: So lange es mir gut geht, will ich ein offensives Leben führen und daran wachsen.

Welche Aussagen machen Sie sonst noch sauer?

Jähme: Wenn es angesichts der Infektionszahlen wieder heißt: „Da muss man doch was machen!“ Dabei haben wir mit 3000 Neuinfektionen jährlich in Deutschland eine der niedrigsten Quoten weltweit. In den Medien wird viel zu sehr dramatisiert.

Aber es gibt doch mehr Neuinfektionen als noch vor wenigen Jahren. Ist nicht der Trend allein Grund genug, alarmiert zu sein?

Jähme: Es ist ein Grund aufmerksam zu sein. Nicht hysterisch oder panisch. Man muss auch die Gründe für die Zahlen kennen: Zum einen sind die Statistiken genauer geworden, bis vor etwa fünf Jahren sind alle ungenauen Meldungen einfach rausgefallen. Außerdem rufen wir in den letzten Jahren vermehrt dazu auf, sich testen zu lassen.

Wie ist denn die Situation in Wuppertal?

Jähme: Wir können hier nur schätzen, gehen aber von etwa 300 bis 350 HIV-Infizierten aus.

Mir ist noch keiner begegnet…

Jähme: Das ist traurig, aber es gibt sie, diese merkwürdige Diskrepanz: Wir haben eine große Zahl HIV-Positiver im Stadtgebiet – aber keiner kennt sie. Das liegt daran, dass diese Menschen Ängste haben: Wenn meine Infektion bekannt wird, werden Vorurteile auf mir ausgekippt, keiner will mehr mit mir zu tun haben. Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz.

Was ist das populärste Vorurteil?

Jähme: „Wer sich heute noch infiziert, ist doch selbst schuld.“

Und da ist nichts dran?

Jähme: Naja, Viele haben im Kopf, dass Kondome schützen. Aber Menschen sind eben nicht nur Kopf. Menschen sind gefühlsbestimmte Wesen. Da gehen wir bisweilen Risiken ein, manchmal auch solche, wo ein Schaden zurück bleibt. Das lässt sich doch übertragen: Motorradfahren, Skilaufen, Rauchen – es gibt so viele Lebenssituationen, wo wir wider die Vernunft handeln. Wer raucht, weiß auch, dass das gesundheitsschädlich ist – und verdrängt es. Warum sollte man das Risiko beim Sex permanent im Kopf haben? Da ist es fast schon erstaunlich, dass die Prävention beim Thema HIV so gut wirkt.

Quelle: Westdeutsche Zeitung – Interview von Erik Schweitzer

Mit herzlichem Dank für die Genehmigung zur Übernahme in meinen Blog.


Das Trauma AIDS muss im Gespräch mit schwulen Senioren einen Platz haben

Juli 12, 2009

Auf dem Fachtag der AIDS-Hilfe Frankfurt „Leben im Alter – In Würde alt werden“ hielt ich am 11. Juli 2009 einen Vortrag zum Thema: „Noch ein paar schöne Jahre… – Perspektiven älterer schwuler Männer mit HIV“. Da ich in freier Rede gesprochen habe, skizziere ich im folgenden die wesentlichen Schwerpunkte meines Vortrages:

Wir werden immer älter. Und wir werden immer mehr! In der AIDS-Hilfe, wo ich arbeite, sind 25% der HIV-Positiven, deren Geburtsjahr bekannt ist,  50 Jahre und älter. Weitere 50% sind zwischen 40 – 50 Jahre alt.

Alt werden mit HIV, dies wurde bei bisherigen Fachtagungen, die sich mit dem schwulen älter-werden befassten, immer nur am Rande behandelt. Nun ist das älter-werden mit HIV seit 2008 auf medizinischen Kongressen ein etabliertes Themenfeld. Eigene Fachtagungen zu den diversen biografischen, psychologischen und sozialen Aspekten des älter-werden mit HIV stehen noch aus.

Durch das Erscheinen der Krankheit HIV/AIDS wurde eine ganze Generation schwuler Männer traumatisiert. Die Tragweite und Tiefe dieser Traumatisierung wird sich in Zukunft mit dem Älter-werden dieser schwulen Generation und dem Älter-werden HIV-positiver Menschen wahrscheinlich erst noch zeigen. Es gilt, sich darauf vorzubereiten.

Im historischen Rückblick ist schwulen Männern die Traumatisierung der Adenauer-Ära als Zeit der Kriminalisierung von Homoexualität ein fester Begriff.

Die durch AIDS seit Beginn der 80er Jahre einsetzende Phase erneuter, andersartiger aber nicht minder schwerer Traumatisierung, erscheint erst heute, wo zuverlässige medizinische Erfolge der Behandlung der HIV-Infektion sich eingestellt haben, als „Ära“ ein- und abgrenzbar.

Dass selbst das RKI im Mai 2009 davon spricht, dass „AIDS eine weitgehend vermeidbare Komplikation einer HIV-Infektion“ geworden ist,  bestärkt meinen Eindruck, dass wir eine schwere Zeit hinter uns gelassen haben und eine wieder leichtere Zeit begonnen hat.

Im Älter-werden und im Lebensrückblick schwuler Senioren erscheint es mir sehr wahrscheinlich, dass sowohl von schwulen HIV-Positiven, welche ihre frühe Diagnose bis heute überlebt haben, als auch von schwulen Senioren, die bis heute HIV-negativ geblieben sind, in den Biografien HIV-spezifische Erfahrungen lebensprägend waren und sind.

Dies sind nicht nur Verluste von Lebenspartnern und Freunden durch einen AIDS geschuldeten Tod, sondern auch Trauer über ein „aus Angst vor Ansteckung mit HIV, oder Übertragung von HIV nicht-gelebtes Leben“. Jetzt, wo HIV seinen Schrecken verliert und das Leben wieder leichter wird, sind wir aber alt geworden und ein Nachholen des bisher nicht-gelebten ist i.d.R. nicht mehr möglich.

Auch diejenigen, denen im Leben mit HIV eine positive Lebensbewältigung gelungen ist, brauchen die aufrichtige und interessierte Einladung, (einander) mitteilen zu können, wie es ihnen ergangen ist und was sie in der AIDS-Krise erlebt haben.

Zum „In Würde alt werden“ braucht es Selbstakzeptanz und Bejahen auch des nicht-gelebten Lebens. Es muss möglich sein, sich selber und anderen gegenüber klar sagen zu können: „Ja, so war es!“ Und es muss möglich sein, darin verstanden zu werden.

Diese 25 Jahre HIV und AIDS durchlebt und erlebt zu haben, mit der aufbrandenen Homophobie der Gesellschaft als Gegenwind, mit der tödlichen Bedrohung durch HIV im Nacken und als HIV-Positiver oft auch mit dem Heimatverlust durch Ausgrenzung in der eigenen Community, dies ist eine Lebensleistung, die zu würdigen ist, die in vielen Leben mit HIV einer Wertschätzung und Anerkennung würdig ist.

Schwulen Männern ist es individuell und als Kollektiv gelungen, diese doppelte Bedrohungen auszuhalten und abzuwehren. Wir haben kreative Lösungen gesucht mit Safer-Sex-Workshops und mit der Gründung von AIDS-Hilfen, mit Kampagnen, Präventionsprojekten, Spezialpflegediensten etc. Wir haben leistungsstarke Strukturen und Organisationen aufgebaut, die unserer schwulen Community und auch der Gesellschaft von Nutzen sind.

Wer aus dieser schwulen Generation, die besonders den Beginn der AIDS-Krise Anfang der 80er Jahre miterlebt hat, heute noch lebt, legt Zeugnis davon ab, vor der Bedrohung nicht kapituliert zu haben, sondern sie zumindest äusserlich bewältigt, weil überlebt zu haben.

Wie viele Suizide dagegen HIV geschuldet sein mögen, wird immer ungewiss bleiben. Aber es werden nicht wenige sein.

Die innerpersönliche Bewältigung kann mehr, oder auch weniger vollzogen sein. Vielleicht ist sie auch nie abschliessbar. Ich vermute: Oft wird die erlebte Traumatisierung noch gar nicht gespürt und erkannt. Für viele ist der Schmerz noch zu groß und zu tief in der Seele „verbuddelt“ und wirkt von dort depressiv-verstimmend in den Lebensalltag hinein.

Durch die heute zur Verfügung stehenden wirksamen Therapien könnte  AIDS nicht länger traumatisierend sein:

1. Ist eine HIV-Infektion erkannt, ist das Fortschreiten ins Krankheitsstadium AIDS weitgehend vermeidbar und eine weitgehend normale Lebenserwartung möglich.

2. Wird die HIV-Infektion medikamentös behandelt, ist die Infektiosität i.d.R. wirksam unterdrückt und ein angstfreies Leben von Sexualität wird wieder leichter möglich.

Beides stellt eine Zäsur für die emotionale Bewertung und den Umgang mit HIV dar. Das Leben normalisiert sich wieder.

Und dadurch wird ein Prozess ermöglicht und einsetzen, nach und nach Rückschau zu halten auf das, was wir schwulen Männer und heutigen schwulen Senioren in der AIDS-Krise erlebt und durchlebt haben.

Auf diese Rückschau wird sich jeder sehr unterschiedlich einlassen, eben weil die Erinnerung an den Schmerz über verstorbene Freunde oder ungelebtes Leben noch so emotional aufgeladen sein kann, dass  eine Abwehr und ein Aufrechterhalten der Vermeidung des Spürens der emotionalen Tribute dieser Lebenszeit beherrschend sind und ein Zulassen verhindern.

Trauer ist die Emotion der Wandlung. Wer Trauer nicht zulässt, verhärtet. Spüren wir Trauer, fliessen oft auch Tränen, das Verhärtete kommt in Fluss und kann sich wandeln. Es wird sichtbar, dass wir des Trostes und des Gehalten-werdens bedürfen.

Wenn wir zulassen, was war, können wir auch zulassen, was jetzt ist und warum und wie wir geworden sind, die wir sind. Dann können wir Gemeinschaft erfahren.

Die Rückschau wird in jedem Schwulen ganz persönliche Erinnerungen und Erfahrungen wachrufen. Es bedarf behutsamer Geduld und Gesprächsräume, alles Wesentliche der eigenen Biografie zur Sprache zu bringen und sichtbar werden zu lassen. Hier sehe ich neben Freundeskreisen auch die Beratungsstellen und AIDS-Hilfen gefordert, mit der nötigen Sensibilität, aber auch Ermutigung, zur Begegnung mit diesem Teil der eigenen Lebensgeschichte einzuladen.

Einschränkungen durch HIV, unterschiedlichster Art, prägen in unterschiedlichen Maß eine ganze Generation schwuler Männer. In der Begegnung mit schwulen Senioren, wo auch immer, sollte bewusst sein, dass es lohnen kann, hierfür aufmerksam zu sein.

Vor Altersnostalgie dagegen sind wir gefeit. Früher war eben NICHT alles besser. Besser ist es HEUTE. Schwul zu leben ist heute wesentlich leichter geworden. Und nie war die Therapierbarkeit der HIV-Infektion so gut wie heute.

Die Forschung muss aber weitergehen, bis eine Heilung von HIV und eine Impfung vor HIV gefunden ist.

In Würde alt zu werden, dafür erscheint es mir angemessen, uns untereinander Anerkennung für die Lebensleistung auszusprechen, sich gegen die Heteronormatitivät behauptet zu haben.

Aber ich erwarte auch, dass die Gesellschaft ihre aufrichtige Wertschätzung für die ausserordentliche Lebensleistung meiner Generation schwuler Männer in der AIDS-Krise würdigt.

Die volle Rehabilitierung und das Ende der Stigmatisierung von HIV-Positiven, sowie die volle Anerkennung von homosexuellen Lebensweisen seiten der Gesellschaft steht noch aus.

In Würde alt werden und als schwuler Senior – gerade auch mit HIV – sichtbar zu sein, daran wird sich unsere Gesellschaft gewöhnen müssen. Dafür brauchen wir starke schwule Senioren-Netzwerke.

Wir sind die Stonewall-Generation! Uns kriegt keiner mehr zurück in den Schrank! Im Alter erst recht nicht!


Das P von Proud – Es geht nicht um HIV, es geht darum, welche Bedeutung Du Deinem Leben gibst

März 7, 2009

Im Poz and Proud – Blog in den Niederlanden läuft eine Serie „de P van Proud“, in der schwule Männer über ihre Gedanken und Erfahrungen mit HIV schreiben. Und wie sie Würde, Selbstbewusstsein und Stolz als schwule Männer mit HIV leben, denn ihr Motto ist zurecht: Ein Leben mit HIV ist kein Grund für Scham und Schuld („living positive isn’t a shame“).

Maartens Beitrag habe ich hier übersetzt. Heute folgt nun mein eigener Beitrag für diese Serie.

on top of my life

Es geht nicht um HIV, es geht darum, welche Bedeutung Du Deinem Leben gibst

Ich bin 1959 geboren und lebe seit 1990 mit dem Wissen um meine HIV-Infektion.

Damals, 1990, gab es keine Medikamente, HIV im Körper zu bändigen. Man hätte verzweifeln können. HIV hatte etwas dämonisches, war auch wegen der sozialen Ausgrenzung das Furchtbarste, was einem passieren konnte.

Aber schon früher, seit Anfang der 80er Jahre, hatte HIV begonnen, mein Leben einzuschränken, mir die Lust auf schwul-sein, die Lust auf Sex verdorben. Die Welt erschien mir wie eine gefährliche unheimliche Geisterbahn. Sexualität war in meinem Elternhaus tabuisiert. Sexuell zu sein war etwas, das man nicht zeigte und worüber man nicht sprach. Noch schlimmer: christliche Moral diffamierte Freiheit und Lust.

Für mich persönlich kein förderliches Klima, um Lust an der Lust und Sicherheit in der Freiheit zu lernen. Mein self-made Weg in die Freiheit ging nur in kleinen Schritten voran. HIV war schneller.

Auf der Geisterbahn des Lebens zählte HIV für mich zu den bedrohlichen Mächten. Meine HIV-Diagnose erlebte ich als Drachenkampf und Erwachen. Sie war wie ein Erdbeben, das eine Großstadt in Schutt legt: alles kaputt, kein Haus mehr heil, nur noch Schutt, keine Straßen gab es mehr – nur noch ein großes Trümmerfeld. Und mittendrin „Ich“.

Drachenkampf

Ich registrierte, dass ich überlebt hatte, dass ich in dieser Katastrophe am Leben war. Den Schock dieser Situation habe ich damals nicht wahrgenommen. Ich begann einfach das naheliegende zu tun: Wer ist noch da? Wo bin ich hier? Wie kann es jetzt weitergehen? Was kann ich jetzt tun?

Und da begann mein eigener Geist ganz befreit die Regie zu übernehmen. Das war seine Stunde, war meine Stunde: Er flüsterte mir behutsam und kraftvoll zu: Solange du lebst, geht es weiter auf Deiner Fahrt! Du schaffst es! Du findest Kumpel, Weggefährten und Freunde! Dein Ziel ist es, immer weiterzugehen! Es gibt keinen Grund, vor dem Leben Angst zu haben. Sag dies weiter! Sei unerschrocken, sei wachsam! Du schaffst es!

Ja, und ich habe es geschafft! Ich habe diese 19 Jahre geschafft, in denen HIV mir und anderen im Nacken saß, in der HIV einen nach dem anderen aus unserer Herde mutiger Mustangs abgeschossen hat. Wie ich dies überlebt habe, bis HIV seine Macht verlor, warum und wie ich dies überlebt habe, – ich weiss es nicht. Glück und Geschick vielleicht?

Ich habe sehr vieles von dem erlebt, was das Leben zu bieten hat: Angst, Schrecken, Krankheit, den Tod von Freunden, den Tod von meinem besten Freund René. HIV hatte nicht die Macht, unseren Zusammenhalt und Mut, unsere Solidarität und Kameradschaft zu brechen. Wir waren stärker und wir wissen das heute. Das ist mein Stolz im Leben mit HIV, mein „P von PROUD“.

Wer das eigene Denken aufgibt, mit dem ist es aus. Wer sich nicht traut, mit dem ist es aus. Wer die Kraft in sich nicht erweckt, mit dem ist es aus.

Es gibt viele in dieser Welt, die an Deine Tür klopfen und Dir verkaufen wollen, „was HIV ist“. Schick sie alle weg!! HIV ist das, was DU daraus machst! HIV bekommt DIE Bedeutung die Du diesem Virus und dieser Krankheit gibst.

Und es geht nicht darum, welche Bedeutung Du HIV gibst, es geht darum, welche Bedeutung Du Deinem LEBEN gibst.

Es ist DEINE Macht, dies selber herauszufinden. Dich soll nicht interessieren, was andere denken und was andere sagen. Nur Du kannst den Weg zu Deiner Stärke finden. Wer Dich darin unterstützt, ist ein weiser und würdiger Freund, wer Dir etwas einreden will, so gut es auch gemeint ist, der betrügt Dich.

Das Leben ist eben keine Fahrt in der Geisterbahn. Das Leben ist schön und Dein Leben ist nicht vorbei, auch und gerade mit einer HIV-Diagnose nicht. Im Gegenteil: Dein Leben hat sehr viel Geduld, mehr als Du selber – und es wartet auf Dich! Freu Dich! Du bist stark und schwuler Sex ist schön!

(Die Erstveröffentlichung in niederländischer Sprache findet sich hier.)