Jeder Beruf kann auch mit einer HIV-Infektion ausgeübt werden

März 15, 2014

Die Landeskommission AIDS  hat im März 2014 eine 5-seitige Empfehlung an die Landesregierung NRW zum Umgang mit Menschen mit HIV/AIDS in der Arbeitswelt veröffentlicht. Eine zentrale Aussage steht dem Text voran:

„Jeder Beruf kann auch mit einer HIV-Infektion ausgeübt werden.“

Menschen mit HIV werden aber im Arbeitsleben nach wie vor mit unbegründeten Ansteckungsängsten konfrontiert. Handlungsbedarf sieht die Landeskommission vor allem darin,

  • Ängste abzubauen
  • Diskriminierung zu beenden
  • Menschen mit HIV über ihre Rechte aufzuklären, sowie
  • Menschen mit HIV zur aktiven Teilnahme am Arbeitsleben zu ermutigen.

Eine wichtige Massnahme um diese Ziele zu erreichen sei unter anderem eine offensiv Verbreitung zeitgemäßer Informationen wie z.B.:

„Eine Übertragung von HIV auf Dritte ist im Berufsalltag ausgeschlossen. Menschen mit chronischen Erkrankungen müssen nachteilsfrei am Arbeitsleben beteiligt werden. Dies gilt auch für Menschen, die mit HIV leben. Die Frage des Arbeitgebers nach einer HIV-Infektion ist grundsätzlich nicht zulässig. Wird die Frage trotzdem gestellt, kann die Bewerberin oder der Bewerber die Antwort verweigern oder die Frage nicht wahrheitsgemäß beantworten. Die Durchführung eines HIV-Tests im Rahmen einer Einstellungsuntersuchung auf Verlangen des Arbeitgebers ist ebenfalls grundsätzlich nicht zulässig. Erlangt die untersuchende Ärztin oder der untersuchende Arzt dennoch Kenntnis über eine vorliegende HIV-Infektion, darf sie oder er den potentiellen oder bereits bestehenden Arbeitgeber darüber nicht informieren, sondern unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Auskunft darf nur über die Eignung für den entsprechenden Arbeitsplatz gegeben werden.“

In einem ergänzenden Exkurs geht die Landeskommission AIDS unter anderem auf die medizinische Definition von HIV und AIDS und deren Aussagekraft zur Arbeitsfähigkeit ein und erläutert:

„Die Abkürzung AIDS steht für „Acquired immunodeficiency syndrome“, „erworbenes Immundefektsyndrom“. Zur Stadieneinteilung der HIV-Infektion wird meist noch die 1993 eingeführte CDC-Klassifikation benutzt, die zuletzt 2008 überarbeitet wurde. Die CDC-Klassifikation beschreibt den bislang schlechtesten, durch die Immunschwäche verursachten Gesundheitszustand eines Menschen. Vor der Einführung einer wirksamen Therapie der HIV-Infektion wurde mit dem Kürzel „AIDS“ in der CDC-Klassifikation eine weit fortgeschrittene Erkrankung beschrieben. Da die CDC-Klassifikation keine Rückstufung (Besserung) zulässt, ermöglicht sie heute ausschließlich eine rasche Orientierung über den bislang schlechtesten Gesundheitszustand, der durch die Immunschwäche bedingt war, besitzt aber keine Aussagekraft über den aktuellen Gesundheitszustand eines Menschen mit HIV.

Die vollständige Empfehlung der Landeskommission AIDS ist hier als pdf nachzulesen.

 

 


5 Jahre nach EKAF: tagesschau.de meldet „… Sie stecken niemanden mehr an.“

Mai 20, 2013

Am 30.1.2008 veröffentlichte die Eidgenössische Kommission für AIDS-Fragen (EKAF) in der Schweiz eine Stellungnahme, dass unter wirksamer Therapie HIV-Positive beim Sex nicht mehr infektiös sind.

Heute erinnert ARD-Korrespondentin Sabrina Fritz auf tagesschau.de an die erste Publikation über die Identifizierung des HIV im Wissenschaftsmagazin „Science“  am 20.5.1983 und sie weist auf die  Therapiefortschritte in den zurückliegenden 30 Jahren hin. Dabei informiert sie auch wie folgt:

„Die Behandlung von HIV-Infizierten hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. In kaum eine andere Forschung ist aber auch so viel Geld geflossen. Patienten können heute so behandelt werden, dass in ihrem Blut das HI-Virus so gut wie nicht mehr vorhanden ist. Damit können sie ein fast normales Leben führen und was ebenso wichtig ist: Sie stecken niemanden mehr an.“

In der ersten Zeit nach Veröffentlichung der EKAF-Stellungnahme wurde die Bedeutung des Inhalts der Stellungnahme von vielen Seiten klein geredet. Tenor war: Nicht mehr ansteckend?, Das darf man doch nicht laut sagen…

HIV-positive Aktivisten und Blogger jedoch forderten schon 2008, laut und offensiv über diese Therapiefortschritte zu informieren. Sie kritisierten es als undemokratisch, Informationen zurückzuhalten. Es galt, die in der HIV-Prävention bewährte Lernstrategie auch in der neuen Situation fortzusetzen.

Die Verunsicherung in den Aidshilfen und in der HIV-Fachwelt war 2008 groß. Die Welt schien auf den Kopf gestellt. Von der oft beschworenen Solidarität mit Menschen mit HIV war lange nichts zu spüren. Erst 2009 veröffentlichte die Deutsche AIDS-Hilfe ein Positionspapier, das die Relevanz der EKAF-Stellungnahme anerkannte und vertiefte. Inzwischen informiert auch die bundesweite Kampagne zum Welt-AIDS-Tag über die Nichtinfektiosität unter wirksamer Therapie. Im März 2013 schloss sich auch die DAGNÄ (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter) im Rahmen einer Stellungnahme an.

Auch die Medien in Deutschland schwiegen und es dauerte lange, bis die Information der Nichtinfektiosität unter wirksamer Therapie ein Thema in der Berichterstattung wurde.

So „laut“ ausgesprochen wie heute auf tagesschau.de habe ich es in dem bekanntesten deutschen Nachrichtenprogramm allerdings noch nicht wahrgenommen. Lang hat es gedauert, bis nun auch tagesschau.de Klartext redet. Auf Fortsetzungen darf man gespannt sein.

Weitere Informationen hier als FAQ’s zum Schutz durch Therapie oder ausführlicher in der Broschüre „HIV-Infektion und Therapie 2013


WEITERLEBEN: Gegen den Strom ins Leben

Dezember 2, 2012

Am 1. Dezember 2012 fand in der Frankfurter Paulskirche die 19. Gedenkveranstaltung der AIDS-Hilfe Frankfurt zum Welt-Aids-Tag statt. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto ‚WEITERLEBEN‘. Im Folgenden als Dokumentation die von mir, Michael Jähme, dort gehaltene Rede:

Gegen den Strom ins Leben

Liebe Freunde und Freundinnen, sehr geehrte Damen und Herren!

Von den Veranstaltern wurde ich als Redner eingeladen, weil ich in den letzten Jahren bewusst über das Älterwerden mit HIV und über den Umgang mit Erinnerungen und Geschichte nachgedacht und öffentlich gesprochen habe. Dies möchte ich heute mit einigen neuen Aspekten fortsetzen.

Ich lebe als schwuler Mann nun schon über 22 Jahre mit der Diagnose HIV. Ich bin jetzt 53 Jahre alt, und damit viel älter geworden, als ich es mir am Tag der HIV-Diagnose im April 1990 je zu träumen wagte. Ich bin nicht traurig, bis heute weitergelebt zu haben. Im Gegenteil, ich empfinde Glück und Lebensfreude darüber. Und in dieser Lebensstimmung bin ich viel stärker beheimatet als in der Trauer.

Das Leben mit HIV, wie ich es in den frühen 90er Jahren erlebt habe, war geprägt von einer Todesbedrohung und großen persönlichen Unsicherheit um die eigene Zukunft. Intensiv war der Zusammenhalt unter den HIV-Positiven, wir fühlten uns als Schicksalsgemeinschaft. Neben all der Trauer um Weggefährten und Freunde, die erkrankten und starben, gab es auch eine eigenartige intensive Emotionalität, gespeist von Vitalität, Lebenslust und Bewusstsein der eigenen Stärke und des Rechts auf Leben. Der von außen kommenden und auch teils verinnerlichten Zuschreibung von „Todgeweihten“ mussten wir einen Lebenswillen entgegensetzen, um überhaupt weiterleben zu können. Es galt, sich gegen die Zuschreibungen von und über HIV zu behaupten.

Dieser Zustand dauerte mehrere Jahre an. Groß angekündigte hoffungsvolle Therapiefortschritte entpuppten sich immer wieder nur als Luftnummern. Um nicht permanent die anstrengende Achterbahnfahrt von Hoffnung und Absturz in die Enttäuschung durchleben zu müssen, wurden wir gegenüber Versprechungen über therapeutischen Fortschritt skeptisch. Das Erleben der Erkrankungen und des Sterbens an Aids um uns herum gab dieser Skepsis ja auch Recht. Die vom Wunsch getragene Erwartung der 80er Jahre, dass die medizinische Forschung schnell eine Therapie oder Heilung von HIV finden würde, blieb enttäuscht.

Realistische Hoffnungen auf Lebensrettung entwickelten sich Mitte der 90er Jahre. Kombinationstherapien brachen die Macht des HIV über unsere Körper, nährten Hoffnung und ermöglichten neue Lebensperspektiven. In der AIDS-Hilfe NRW nahm ich im September 1997 an einer „Zukunftswerkstatt“ mit dem Titel „Von der Zeit nach AIDS“ teil. Der visionäre Titel löste damals teils heftige abwehrende Empörung aus. In der Dokumentation dieses Workshops findet sich folgendes Zitat von mir: „Das ‚Opi’ werden im positiven Sinne würde mir gefallen.“ Die Lust, weiterleben und von den eigenen Erfahrungen erzählen zu wollen, hat mich also schon damals getragen und es scheint, dass ich inzwischen das Großvatersein erreicht habe. 22 Jahre leben mit HIV, das macht alt, da hat man viel zu erzählen…

Trotzdem blieb auch in den 90er Jahren bei mir die Skepsis noch lange lebendig: Wie lange würde die Schutzwirkung der Kombitherapien andauern? Wie lange dauert es, bis Resistenzen da sind? Wie gefährlich sind die Nebenwirkungen und Langzeitnebenwirkungen? Meine Lebensstimmung war geprägt von der Erfahrung: „Es hilft!“, aber gleichzeitig blieb die Verunsicherung des „Aber wie lange wird es gut gehen?“

Gefühlt saß mir HIV immer noch bedrohlich nah im Nacken. Rückblickend habe ich für diese Zeit ein symbolisches Bild gefunden: Ich sehe mich als Schwimmer, der im Wasser alle Kraft aufwenden muss, gegen eine starke Strömung anzuschwimmen und gegen einen Sog anzukämpfen, der drohte, mich unter Wasser zu ziehen und in einem riesigen Strudel zu verschlingen.

Ich verstehe dieses Bild aus heutiger Sicht so: Wenn man mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, hat man zum Erinnern und zum Blick zurück keine Zeit. Innehalten und den Blick zurückzuwenden war gefährlich und somit gar nicht möglich. Überleben ging nur mit dem Blick und aller Konzentration nach vorne.

Für mich war es dann wohl um das Jahr 2003, als ich begann, mich mit der Kombitherapie dauerhaft sicher zu fühlen. Wieder in das Bild vom Schwimmer einsteigend, erlebte ich mich nun in ruhigeren Gewässern. Die Todesbedrohung war weg, ich hatte HIV überlebt, und nun ist es auch möglich, innezuhalten, den Blick zurückzuwenden und anzufangen zu verstehen, was ich und wir da eigentlich an Schrecken erlebt und überlebt haben.

Gesellschaftlich herrschten aber noch ganz andere Bilder vom Leben mit HIV vor: HIV-Positive wurden ausschließlich als Kranke, als Opfer dargestellt. Das Leben mit HIV wurde zwar allmählich nicht mehr vom Tod, aber doch immer noch von den Nebenwirkungen der Medikamente her präsentiert.

Was ganz eindeutig fehlte, war die Perspektive, Menschen mit HIV auch als Sieger, als erfolgreiche Kämpfer zu zeigen, die selbstbewusst und stolz sind auf das, was sie über all die Jahre überlebt und in ihrem Leben erreicht haben. Und was sie sich im Gegenwind der Vorurteile an Lebensraum erkämpft haben. Ohne es zu bemerken, sind wir Zeitzeugen geworden, Zeitzeugen einer Zeit, als es noch keine HIV-Medikamente gab, als Freunde und Weggefährten einer nach dem anderen wegstarben und ein unvorstellbarer massenmedialer moralisch unterlegter Hysteriesturm die Republik erfasste.

Mir geht es heute darum, ein Bewusstsein zu wecken, dass es eine zu würdigende Lebensleistung ist, diese schwierigen Zeiten überlebt zu haben. Wir sind Zeitzeugen – und diesen Begriff verstehe ich als Ausdruck dessen, dass wir authentische Träger einer Erfahrung sind, die es wert ist, bezeugt und im kollektiven Gedächtnis bewahrt zu werden.

Wir müssen lernen, über die Vergangenheit zu reden, uns mitzuteilen, unsere Erlebnisse in Worte zu fassen, Unausgesprochenes auszusprechen, vielleicht auch erst einmal auszuprobieren, Worte zu suchen und zu finden. Und weil das, was wir erinnern, immer emotionale Momente sind – anderes vergessen wir nämlich – gehört zum Erinnern auch das Wiedererleben der Gefühle von damals. All die Angst und Enge, die Gefahr und der Schmerz über erlebte Gefahren, Demütigungen und Verluste, aber auch erlebt Solidarität und all unsere Lebendigkeit und Lebenskraft ruhen in unseren Erinnerungen. Es tut gut, anderen Geschichten erzählen zu können von dem, was wichtig war im Leben. Um wirklich lebendig zu werden, ist es wichtig, nicht nur informativ zu berichten, sondern emotional beteiligt zu erinnern mit einem „Stell dir das mal vor! So war das damals!“ Und dafür brauchen wir Gesprächspartner, deren Wertschätzung und deren aufrichtigem Interesse wir gewiss sein können.

Natürlich hat die Erfahrung von HIV unser Leben geprägt und manche Pläne verhindert. Mich überzeugt aber ein Satz der von mir sehr geschätzten Psychotherapeutin Verena Kast, die sagt: „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben!“ Damit rückt sie genau das in den Vordergrund, was ich mit der Rolle des Zeitzeugens meine: Das was ich – und jeder von uns – mit HIV erlebt hat, hat einen Wert. Das Leben mit HIV hat einen Wert – und wenn es noch so viel Stigmatisierung und Diskriminierung gibt. Wir müssen anfangen, uns selber mehr wertzuschätzen – und wir sollten uns selber Räume schaffen, in denen wir gegenseitig unsere Geschichten erzählen können. Wenn wir Geschichten von unseren Erlebnissen erzählen, können wir ihnen einen Ort und eine Bedeutung in unserem Leben geben. Und im Lebensrückblick kann sich die Bedeutung eines Erlebnisses auch verändern, können sich die prägenden und auch die selbstwertstärkenden Kräfte entfalten, wie es uns gelungen ist, weiterzuleben.

Ich sehe es als eine Zukunftsaufgabe für Aidshilfen, diese Orte der Begegnung und des gemeinsamen Erinnerns herzustellen. Ich fürchte, es gibt viele Menschen mit HIV, die ihre Geschichten noch nicht erzählt haben. Genau dies haben die Interviewer und Interviewerinnen des gerade abgeschlossenen Projekts „positive-stimmen“ erlebt. Weil sie auf Menschen mit HIV direkt zugegangen sind und hören und erfahren wollten, was sie an HIV-bezogener Stigmatisierung erlebt haben, ergab sich für viele HIV-Positive erstmals die Gelegenheit, teils sehr belastende und erschreckende Erfahrungen mitzuteilen.

Ich bin überzeugt, dass es besonders für das Älterwerden mit HIV wichtig ist, über das eigene Leben mit HIV zu erzählen. Für ein gutes Identitäts- und Selbstwertgefühl ist es wichtig, anzuerkennen und damit wahr werden zu lassen, was war und was ist. Ein Bewusstsein für die eigene Biografie und ein Bewusstsein über den Wert des eigenen Lebens schützt zudem präventiv vor Depressionen, die bei HIV-Positiven häufiger festgestellt werden.

Gemeinschaftliche Biografiearbeit in kleinen Gruppen ist dafür eine sehr geeignete Methode. Biografiearbeit kann Bedürfnissen von Menschen mit HIV entsprechen, die mehr brauchen als eine kurze sozialpädagogische Beratung – aber weniger als eine lange Psychotherapie. Wir müssen nicht alle auf die Couch, oft reicht auch ein einladender freier Stuhl im Kreis einer Gruppe.

Unser gelebtes Leben ist ein großer Schatz und eine reiche Ressource von Fähigkeiten. Meine Vision ist, dass wir aus der Trauer erwachen. Und dass wir die in der Trauer und in der Erinnerung gebundene Kraft befreien für unser Leben heute und morgen.

Wir haben doch gelernt, gegen den Strom zu schwimmen und uns zu behaupten. Das hat uns nicht nur Kraft gekostet, es hat uns auch stark gemacht.

***

Nach Ende meines offiziellen Redetextes schloss ich spontane Worte des Erinnerns an Markus Volk an, der wenige Tage zuvor am 27.11.2012 in Frankfurt gestorben ist. Markus war mit seiner HIV-Infektion öffentlich, seit 2008 als Rollenmodell in der Präventionskampagne „Ich weiss was ich tu“ und im Jahr 2010 als Botschafter der ersten Staffel der neuen Kampagne „Positiv zusammen leben“. Markus hat das gelebt, womit ich in meiner Rede ende.

Anlässlich des Starts der Kampagne „Positiv zusammen leben“ 2010 wurde ihm in einem Interview die Frage gestellt: Hast du eigentlich keine Angst davor, dass du jetzt in der Öffentlichkeit mit triefendem Mitleid überschüttet wirst?

Markus antwortete entschieden: „Nein, denn ich lasse den Leuten gar nicht die Wahl. Wenn mir ein Reporter traurig in die Augen guckt, dann sage ich dem ganz schnell: „Passen Sie mal auf, das ist genau das, was wir nicht wollen. Wir wollen zeigen, dass wir stark sind!“ Und die, die nicht stark sind, wollen wir schützen.“  

 


positive-stimmen outen HIV-bedingte Stigmatisierung

November 28, 2012

2011/2012 wurden im Projekt positive stimmen 1148 Menschen mit HIV in Deutschland zu ihren Erfahrungen mit HIV-bezogener Stigmatisierung und Diskriminierung befragt. Nun liegen die Ergebnisse vor – und damit zum ersten Mal umfangreiche und aussagekräftige Daten zur Situation von HIV-positiven Menschen in Deutschland.

Hier mein Vorwort als Projektbeirat in der Projektdokumentation

Menschen mit HIV wissen heute, dass die HIV-Infektion gut behandelbar ist. Dank wirksamer Therapien können sie oft mit einem langen Leben und stabiler Gesundheit rechnen. Sie wissen um den möglichen Effekt einer wirksamen Therapie, HIV beim Sex nicht mehr übertragen zu können. Die HIV-Infektion hat einen Bedeutungswandel erfahren und das Selbstbild von Menschen mit HIV verändert sich grundlegend: HIV-Positive sind HIV-Negativen in zentralen Aspekten wieder gleicher geworden. Man sollte meinen, dass damit auch die Stigmatisierung und Diskriminierung auf Grund von HIV abgenommen hätte.

In der Gesellschaft ist das Wissen um die veränderte Lebenssituation von Menschen mit HIV aber nicht ausreichend angekommen. Ein unaufgeregter Umgang mit HIV-Positiven kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden: HIV löst Stress, Angst und eine Verunsicherung aus, die erklärt und aufgeklärt werden muss.

Trotz Therapiefortschritten bleibt HIV eine Infektionskrankheit, die mit Sexualität, Drogenkonsum und von der bürgerlichen Norm abweichenden Lebensstilen verknüpft ist. Zusammen mit irrationalen Ansteckungsängsten bildet dies den Nährboden für Stigmatisierung und Diskriminierung.

Als Teil einer globalen Befragung haben im Projekt „Positive Stimmen“ Menschen mit HIV die Realität in Deutschland im Jahr 2011/2012 selber erforscht. Von ihnen wurden 1148 standardisierte Interviews mit anderen HIV-Positiven geführt. Für viele Interviewte ergab sich darüber erstmalig die Gelegenheit, frei über ihre belastenden Erlebnisse zu erzählen.

Die Ergebnisse fordern dazu auf, Menschenrechte für Menschen mit HIV in Deutschland umfassender zu verwirklichen. Unsere Gesellschaft als Ganze steht in der Verantwortung, dieses Ziel zu erreichen.

Wir danken allen Menschen mit HIV, die sich im Projekt „positive stimmen“ engagiert haben. Ebenso herzlich danken wir Caroline Vierneisel, die mit ihrem großartigen Engagement als Projektkoordinatorin in der Deutschen AIDS-Hilfe wesentlich zum erfolgreichen Abschluss der Befragung beigetragen hat.

Michael Jähme

Projektbeirat „positive stimmen“

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Projektdokumentation “positive stimmen verschaffen sich gehör!” als pdf  (Die Printausgabe ist leider schon vergriffen.)

Ein globales Projekt: The People Living with HIV Stigma Index


Eine eigene Stimme der Positivenselbsthilfe ist unverzichtbar

November 24, 2012

Die AIDS-Hilfe Leipzig veröffentlichte ihr aktuelles Magazin „Querele“ zum Themenschwerpunkt „EKAF – 4 Jahre danach“ . Für die Querele zog ich folgende persönliche Bilanz:

Die Erkenntnis, unter wirksamer HIV-Therapie beim Sex nicht mehr infektiös zu sein, heilte meine Seele. Beim Lesen der  EKAF-Stellungnahme vom 30.1.2008 spürte ich, wie sehr mein Selbstwertgefühl beschädigt war seit der HIV-Diagnose 1990. Seit damals beherrschte mich das Bewusstsein, eine Gefahr für andere sein zu können. Seitdem änderte sich alles. Endlich fiel diese Last von mir ab. Ich bin nicht mehr auf die Bereitschaft anderer Menschen angewiesen, mit mir ein Risiko einzugehen – denn es gibt keines mehr! Die Kränkung meines Selbstwertgefühls, die trotz selbstbewusstem und emanzipatorisch offenem Umgang mit meiner HIV-Infektion im Verborgenen vorhanden war, löste sich auf. Ich bin von einer bedrückenden Last befreit – und begegne anderen mit neuer frischer Selbstverständlichkeit.

Meine Freude war groß, aber die Erfahrung, dass die AIDS-Fachwelt auf die EKAF-Veröffentlichung mit großen Vorbehalten und teils vehementer Abwehr reagierte, empörte mich. Bei jeder anderen Krankheit werden Therapiefortschritte, die das Leben leichter machen, freudig aufgenommen und kommuniziert – aber bei HIV war es einmal wieder anders! Ich erlebte es als massive Diskriminierung, dass meine Lebensqualität als Mensch mit HIV nicht zählte – und alles der Sorge um weiter wirksame Prävention von Neuinfektionen untergeordnet wurde. Unausgesprochen wurde unterstellt, dass wir Menschen mit HIV mit dem Inhalt der EKAF-Stellungnahme nicht verantwortlich umgehen würden und es zu einem Anstieg der Neuinfektionszahlen kommen könnte. Die Lernstrategie, auf die wir in Deutschland als bewährtes Mittel der HIV-Prävention so stolz sind, wurde aufgegeben. (Lernstrategie beinhaltet, dass der aktuelle Wissensstand unzensiert an die Bevölkerung weitergegeben wird, verbunden mit daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen zur Vermeidung einer HIV-Übertragung und dem Hinweis auf Eigenverantwortung.)

Während in den 1980er und 1990er Jahren Neuigkeiten aus Wissenschaft und Forschung sofort in Aidshilfen lebendige Diskussionen auslösten, um die Spreu seriöser Nachrichten von überzogenen Meldungen zu trennen, erlebte ich nach der EKAF-Veröffentlichung eine erstaunliche Schockstarre: Ein großes Schweigen, große Verunsicherung, keiner traute sich, öffentlich zu werden.

Nur wenige Aktivisten der Positivenselbsthilfe, zu denen auch ich mit meinem kurz zuvor gestarteten Blog „termabox“ gehörte, bezogen Position, exponierten sich, redeten laut und streitbar über die EKAF-Stellungnahme. Am 4.Mai 2008 schrieb ich im Blog: „Way of no return – Die Feststellung der Nicht-Infektiosität ist eine Revolution in der AIDS-Historie.“ Damit sollte ich Recht behalten: Die EKAF-Stellungnahme IST eine Zäsur in der Historie von HIV wie schon zuvor Vancouver 1996, als auf der Welt-AIDS-Konferenz die Einführung wirksamer HIV-Medikamente dem großen Sterben ein Ende bereitete.

Aus der EKAF-Debatte nehme ich die Erkenntnis mit, wie unverzichtbar es ist, dass die Positivenselbsthilfe innerhalb und außerhalb von Aidshilfen eine freie Stimme behalten muss.

Heute, also viereinhalb Jahre nach Veröffentlichung der EKAF-Stellungnahme erlebe ich immer noch, dass Menschen erstaunt sind zu erfahren, dass die wirksame HIV-Therapie den Effekt einer Nicht-Infektiosität auslösen kann. Sie fragen zurecht: Warum hört man darüber nichts?

Auch im heutigen Zeitalter wirksamer HIV-Therapien reagieren Menschen bei einer HIV-Diagnose mit Verzweiflung und massiver Angst, mit HIV kein lebenswertes Leben mehr führen zu können. Unbekannt ist, wie häufig das suizidale Krisen auslöst und Menschen tatsächlich Suizid begehen. Aber genau das geschieht.

Ein offenes Aufklären und Reden über die Fortschritte in der HIV-Medizin ist aus meiner Sicht eine ethisch gebotene Verpflichtung, denn das Wissen um die Möglichkeit der Nicht-Infektiosität bei wirksamer HIV-Therapie ist ein effektiver Beitrag zur Suizidprävention.

***

Die  Querele als pdf

Außerdem zum Thema: Deutsche AIDS-Hilfe FAQ’s:  „Schutz durch Therapie“


Wenn das ungewollte „Kind“ plötzlich HIV heißt

März 24, 2012

Wenn Männer kein Bewusstsein für ihre Eigenverantwortung beim einvernehmlichen Sex übernehmen und sich als Kondommuffel gefallen, hat das unter Umständen einen Preis.

Wird beispielsweise eine Frau durch ungeschützen Sex schwanger und bekommt das Kind, hat der Verzicht der Eigenverantwortung des Mannes (hier: Kondomverwendung) den Preis der unbeabsichtigten Elternschaft mit Pflicht zur Unterhaltszahlung.

Im Falle des Verzichts auf den Schutz vor einer Ansteckung mit einem Krankheitserreger  ist der Preis unter Umständen das Leben mit einer HIV-Infektion.

Ich habe es noch nicht erlebt, dass ein Gericht einen Mann von der Pflicht zur Unterhaltszahlung freispricht, weil er seiner Eigenverantwortung zur Schwangerschaftsverhütung nicht nachgekommen ist, als Konsequenz ein Kind entstanden ist, und er naiv sagt: Das wollte ich aber nicht und deshalb bin ich nicht bereit, Unterhalt zu zahlen.

Selbstverständlich wird er auf seine Eigenverantwortung verpflichtet und hat seinen Preis zu zahlen.

Warum bei HIV nicht?

Siehe dazu auch:

Pressemitteilung Deutsche AIDS-Hilfe: „Strafbarkeit der HIV-Übertragung beenden“

In den Anhängen zu dieser Pressemitteilung stelltdie DAH weitere Informationen zur Verfügung. In einem Diskussionspapier erfahren Sie Hintergründe, auch zum Entstehungsprozess unserer Position. Es enthält außerdem Impulsreferate des Rechtsanwalts Jacob Hösl, des Mediziners und Psychoanalytikers Stefan Nagel sowie des Juristen und HIV-Aktivisten Bernd Aretz. In Interviews beleuchtet die DAH neben rechtlichen, ethischen und psychologischen Fragen auch die persönlichen Folgen der Kriminalisierung.


„Wen therapieren wir hier eigentlich?“ – Ein intergenerativer Dialog zum Leben mit HIV

März 5, 2012

Marcel Dams (21), Jungpositiver aus Essen, und der seit 21 Jahren infizierte Michael Jähme (52) aus Köln schreiben beide in einem eigenen Blog über das Leben mit HIV (teilzeitblogger.wordpress.com und termabox.wordpress.com). Sie trafen sich in Köln zum Gespräch der Generationen. Birgit Schreiber moderierte.

 

Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt?

Michael: Im Internet, beim Bloggen. Marcel hat einen Satz von mir zitiert.

Marcel: Ja, der lautete ungefähr so: „Es liegt an dir, welche Bedeutung du HIV in deinem Leben geben willst. Lass dir von den anderen nichts vorschreiben.“

Michael: Ich war fasziniert, dass jemand mich zitiert, noch dazu ein so junger Mensch. Und ich fand es toll, dass jemand aus der jungen Generation so powert. Ich blogge erst seit 2007. Da war ich schon 17 Jahre positiv.

Marcel: Eine seltsame Vorstellung – als ich geboren wurde, hast du dich infiziert.

Michael: Stimmt. In deinem Alter hätte ich mich damals nie getraut, so offen über HIV zu sprechen und mich so angreifbar zu machen.

Marcel: Wir haben heute viel mehr Freiheiten. Es ist viel einfacher, im Netz und im Privatleben zu sagen, ich bin schwul.

Michael: Ich bin in eine Zeit hineingeboren, in der Schwulsein durch den § 175 noch unter Strafe stand. Das hängt mir nach, macht mich und andere meines Alters vielleicht misstrauischer. Und ich war bürgerlich sozialisiert. Mein Coming-out hatte ich mit 26. Ich war schon immer politisch und selbstbewusst, aber erst mit EKAF wurde ich ein Tabubrecher – auch in den Augen meiner Kollegen der Aidshilfe. Ich hatte den Eindruck, man traute den Positiven einfach nicht zu, mit der Botschaft angemessen umzugehen. Das fand ich diskriminierend und empörend. Und es war wichtig, dass HIV-Positive da Druck gemacht haben. Heute kann ich in dem anfänglichen Zögern der DAH, das EKAF-Statement offensiv zu unterstützen, auch etwas Ehrenwertes sehen – man wollte ganz sicher sein und keine unkontrollierbare Diskussion losbrechen.

Marcel: Als ich von EKAF schließlich erfuhr, habe ich mich gefragt, ob der Öffentlichkeit da was verschwiegen worden ist. In einem Blog habe ich später von meinem Recht auf kondomlosen Sex geschrieben, und es gab viele wütende Reaktionen. Die Leute warfen mir vor, ich würde Sex ohne Kondom propagieren. In Wirklichkeit plädiere ich für individuellen, verantwortungsvollen Umgang mit den verschiedenen Möglichkeiten des Safer Sex. Und das kann heute eben auch Sex ohne Kondom sein.

Michael: Wie gehst du damit um, wenn Leute aggressiv auf deine Meinung reagieren?

Marcel: Online verkrafte ich Widerspruch gut. Manchmal kriege ich fünf Schmähmails am Tag. Bestürzt war ich, als ich einen echten Brief im Postkasten zu Hause fand. Darin stand: „Du musst gestoppt werden, die Vorbereitungen sind im Gange.“ Zum Glück war das eine einmalige Sache.

 

Wie seid ihr beide zum Bloggen gekommen?

Marcel: Die Diagnose „HIV“ war für mich ein Schock. Ich konnte nichts fühlen, nur Ekel vor meinem Körper. Ich zog mich zurück. Dann sagte ein Psychologe zu mir, Anfeindungen seien weniger gefährlich, wenn ich mich selbst akzeptieren könne. Da hat es Klick gemacht. Ab jetzt wollte ich mich nicht nur akzeptieren, sondern viel, viel mehr. Doch im Internet, in dem junge Leute ja gern unterwegs sind, hatte ich bislang nur von Langzeitpositiven gelesen. Und Urteile über HIV-Positive wie „Schwulenkrankheit“, „unmoralisch“ oder „selber schuld“, die ich in manchen Foren fand, machten mich wütend. Dem wollte ich was entgegensetzen. Im Bloggen fand ich dann einen passenden Weg, mich zu engagieren und auch jungen Infizierten eine Stimme zu geben.

Michael: Ich habe 2007 zu bloggen angefangen und entdeckt: Manchmal ist Schreiben sehr heilsam, man lernt sich und seine Positionen besser kennen. Das ist gut für das Selbstwertgefühl. Beim Bloggen tue ich also etwas für mich und meine Lebensqualität. Ich frage mich allerdings, wen wir mit unseren Blogs mehr therapieren: uns selbst oder die Gesellschaft, die ihre Ängste über uns auskippt. Vieles, was menschlich ist, wird verdrängt und auf uns abgeschoben.

Marcel: Angst und Verdrängung gibt es auch unter Positiven. Als ich gerade erfahren hatte, dass ich positiv bin, hat mir ein älterer Infizierter gesagt: „Am liebsten würde ich dich jetzt ohrfeigen, weil du dich angesteckt hast.“ Für mich war das sehr, sehr schlimm. Enttäuschend war für mich auch, dass die Leute bei der Aidshilfe so wenig verständnisvoll waren und mir nichts zutrauten. Als ich eine Gruppe für Jungpositive aufmachen wollte, musste ich dafür kämpfen. Dabei heißt es doch immer, die Jungen sollen sich engagieren.

Michael: Ja, viele Ältere trauen den Jungen nichts wirklich zu. Das ist nicht meine Haltung. Ich bin sehr neugierig, wie jüngere Schwule – oft mit weniger emotionalem Ballast – die Dinge anders machen. Deshalb mache ich wirklich gerne Platz. Wenn ich demnächst in Teilrente gehe und meine Arbeitszeit reduziere, hoffe ich, dass die frei werdenden Stunden mit einem jungen Sozialarbeiter besetzt werden, der Bereiche wie Prävention und Öffentlichkeitsarbeit übernimmt. Ich glaube, dass gerade die jungen Mitarbeiter die Potenziale der neuen Medien für die Aidshilfen nutzbar machen können. Wir brauchen auch jüngere Mitarbeiter als Identifikationsfiguren, die das Lebensgefühl der jüngeren Generation besser kennen.

Marcel: Junge Berater sind auch deshalb wichtig, weil man manche Themen am besten mit Gleichaltrigen klärt: die Probleme am Arbeitsplatz, in der Schule, Prüfungen. Aber ich lerne auch gerne von älteren Infizierten.

Michael: Ich erwarte nicht, dass die jungen Leute mich und andere meines Alters verstehen. Man kann sich doch nie wirklich vorstellen, wie es ist, wenn man älter ist. Aber gerade deshalb möchte ich mit den jungen Positiven wie Marcel im Gespräch bleiben. Und ich würde gern mal deine Eltern kennenlernen, die da so einen reflektierten jungen Mann großgezogen haben.

Marcel: Ich selbst bin noch immer sehr beeindruckt von der Vorarbeit und der Radikalität der Langzeitpositiven. Ihr habt damals die Öffentlichkeit sehr provoziert.

Michael: Wir hatten den Tod vor Augen und nichts mehr zu verlieren. Ihr seid heute in einer ganz anderen Situation: Wenn ihr euch outet, werdet ihr das euer ganzes Berufsleben nicht mehr los. Andererseits: Die Infektion zu verschweigen und 40 Jahre zu fürchten, euer Geheimnis könnte enthüllt werden, ist auch keine Perspektive.

Marcel: Das war ein Grund, weshalb ich so öffentlich positiv bin. Das habe ich nie bereut. Seit ich bei IWWIT mitmache, komme ich mit so vielen Menschen ins Gespräch. Und ich freue mich schon auf die Kampagne zum Welt- Aids-Tag 2011, da bin ich dieses Jahr dabei.

Michael: Mir liegt ein Projekt am Herzen, zu dem die Kampagne vom letzten Jahr besonders gut passt – das Motto hieß ja „Positiv zusammen leben“. Denn ich finde, Langzeitpositive wie auch ihre Angehörigen brauchen mehr Möglichkeiten zur Biografiearbeit, mehr Raum für Gespräche. Kränkungen und Verletzungen haben bei manchen seit 20, 25 Jahren Spuren in der Biografie hinterlassen. Und sie müssen Scham- und Schuldgefühle bewältigen, um nicht depressiv zu werden. Es ist auch wichtig anzuerkennen, was man in schwierigen Zeiten durchgestanden hat und wo es persönliche Erfolge gab.

 

Wie habt ihr mit der HIV-Infektion leben gelernt?

Michael: Ich hatte recht schnell wieder eine gewisse Unbefangenheit dem Leben gegenüber gewonnen. Mir hat da einfach geholfen, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Und im Älterwerden habe ich begriffen, dass niemand von uns unschuldig durchs Leben kommt. Seit ich mir nicht mehr vorwerfe, dass ich mich mit HIV angesteckt habe, spielt die Infektion eine weniger belastende Rolle. Ich bin sogar stolz darauf, dass ich damals überhaupt wagte, offensiv und sexuell schwul zu leben, denn die Angst vor einer Ansteckung mit HIV hatte mein Coming-out verzögert. Heute weiß ich: Das Leben gibt es nicht ohne Risiko. Ich wollte lebendig sein und etwas erleben, auch um den Preis der Infektion.

Marcel: Bei mir nimmt HIV manchmal noch viel Raum ein. Zum Beispiel hatte ich bis vor wenigen Monaten noch recht viele körperliche Probleme. Erst seit Beginn der medikamentösen Therapie geht es mir wieder besser. Wichtig ist für mich vor allem, ob die Infektion in meinem Leben eine gute oder schlechte Rolle spielt. Und da stelle ich fest: Ich habe auch viel gelernt, seit ich infiziert bin, habe viele Menschen kennengelernt. Und ich bin viel reifer geworden, habe begriffen, wie verletzlich das Leben ist. Krankheiten gehören für mich mittlerweile zum Leben dazu.

 

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Marcel: Dazu habe ich vor kurzem in meinem Blog Folgendes geschrieben: Ich kann heute nicht wissen, wie mein Leben in zwanzig, dreißig Jahren aussieht. Es kann noch so viel passieren. Hauptsache, ich bin dabei glücklich und akzeptiere mich.

Michael: In Zukunft soll HIV in meinem Leben weniger Raum einnehmen. Privatleben, Sport, Freunde sind jetzt dran. Da ist allerdings doch noch ein Projekt, das mich reizt: Ich würde gern die Biografien von Langzeitpositiven auf Video oder Audio dokumentieren. Dazu habe ich Lust und vielleicht auch bald die Zeit.

***

Dieses Interview wurde erstveröffentlicht in „Annäherungen – Ein Lesebuch zur Arbeit in Aidshilfen“, ab S. 31, Deutsche AIDS-Hilfe 2012. (pdf)

Das Lesebuch kann als Broschüre kostenlos bei der DAH bestellt werden: Bestellnummerr: 027010

Vielen Dank an die DAH für die Genehmigung zur Übernahme des Interviews in meinem Blog.


Selbstverständlich positiv – meine „Positive Stimme“

Januar 27, 2012

Für mich gilt es auch, dieses “positiv – na und?”. Es ist offenbar für viele HIV-Negative wie auch HIV-Positive verstörend, das wahrzunehmen. Aber wenn HIV doch nun einmal seit 22 Jahren meine Realität ist – dann ist das selbstverständlich so.

“Selbstverständlich positiv” ist für mich gleichbedeutend mit “positiv – na und?”

HIV als für mich selbstverständlich zu bezeichnen drückt aus, dass ich meine Realität anerkenne, und mein Bewußtsein meiner Würde und meines Selbstrespektes davon nicht verletzt und beeinträchtigt wird.

In diesem Sinne bin ich “poz&proud”, wie die niederländische Kampagne schwuler HIV-Positiver Männer heisst. Interessant ist, dass in der niederländischen Sprache das Wort “Trotz” dem deutschen “Stolz” entspricht. Stolz auf sein Leben, als schwuler Mann und auch mit oder trotz oder durch HIV zu sein, ist für Massen und Medien immer noch verstörend. Na und? Sie werden es lernen – oder auch eben nicht, was schert es mich!

“Positiv – na und?” drückt für mich Stolz aus, das Leben mit HIV offensiv zu leben und gelebt zu haben – und die gesellschaftliche Erwartung, doch Scham empfinden zu sollen – entschieden und selbstbewusst zurückzuweisen.

Meine Zeit der Selbststigmatisierung, die gab es, die ist aber eindeutig Vergangenheit. Das Bewusstsein und Wissen, bei wirksamer Therapie nicht mehr infektiös zu sein, ausgelöst durch die EKAF Stellungnahme vom 30.01.2008, hat sehr wesentlich dazu beigetragen.

Ich begrüße es sehr, dass Menschen mit HIV über die Deutsche AIDS-Hilfe mit dem Projekt „Positive Stimmen“ ihr Lebensgefühl und ihre Erfahrungen mit Diskriminierung und Stigmatisierung beschreiben. Raus aus der Vereinzelung mit diesen Erlebnissen, rein in das Gemeinschaftserleben, dass hier etwas gesellschaftlich passiert, was ungerecht und unangemessen ist.

Die Mitteilung des eigenen HIV-positiv-sein soll von niemandem mehr als „Geständnis“ erlebt werden. Was gibt es da zu gestehen? Dass man Sex hatte? Das man nicht alles unter Kontrolle hatte? Ich habe kein Unrecht begangen, als ich mich mit HIV angesteckt habe – ich habe gelebt und wollte das Beste für mich. Was daran soll ein Geständnis sein? Dieses im Zusammenhang mit einem HIV-Outing von HIV-Positiven oder auch Journalisten verwendete Wort „Geständnis“ stört mich sehr, denn in der offenbarten Angst der Anderen im Umgang mit HIV gestehen diese ihr Unwissen, ihre Dummheit und ihre Vorurteile. Das Leben mit HIV ist heute anders, als allgemein bekannt ist.

Ich habe viel gelernt – und das war ein spannender Prozess, über dessen Ergebnis ich im guten Sinne gelassen stolz bin.

“positiv – na und?” Ach lass uns doch über was Interessanteres als Selbstverständlichkeiten reden… :-)


„Ich hatte AIDS“ – Von AIDS kann man auch wieder gesund werden

November 23, 2011

Die Bezeichnung AIDS ist eine medizinische Definition für das Vollbild der fortgeschrittenen HIV-Infektion. In den 80er Jahren bedeutete „Vollbild AIDS“ eine sehr kurze Lebenserwartung von nur etwas mehr als einem Jahr.

Heute, 30 Jahre später, kann man vom Vollbild AIDS auch wieder weitgehend gesund – und mit HIV alt werden.

Zu spät mit HIV diagnostiziert, sterben auch heute noch Menschen an AIDS und im Vollbild AIDS. Das wäre vermeidbar, würde die HIV-Infektion früher erkannt– und mit den HIV-Medikamenten behandelt. Bei manchen wird die HIV-Infektion aber erst so spät festgestellt, dass es für die HIV-Medikamente zu spät ist – die Medikamente können nicht mehr ihre heilsame Wirkung entfalten und die Menschen sterben.

Andere haben Glück: Trotz später Diagnose bei lebensbedrohlicher Erkrankung an AIDS überleben sie die akute Krise, und durch die Wirkung der HIV-Medikamente erholt sich das Immunsystem. Der von Krankheit zu Tode geschwächte Körper regeneriert sich, verlorenes Körpergewicht baut sich wieder auf, und auch die Kräfte kommen wieder zurück.

Ernst, einer der Botschafter der Welt-AIDS-TAgs-Kampagne 2011, formuliert es so : „Der HIV-Test hat mein Leben gerettet.“

Mehrfach habe ich Menschen wie Ernst in der Begleitung und Beratung von HIV-Positiven erlebt, Menschen, die bis  auf die Knochen abgemagert und mit dem Tod ringend das Vollbild AIDS überlebten – und 12 Monate später wieder ihrer gewohnten Vollzeitarbeit nachgehen konnten. Es grenzt an ein Wunder. Sie sind nur einfach glücklich und  erleben es so: „Ich bin von AIDS gesund geworden. Ich hatte AIDS – aber ich hab’s überlebt – und  jetzt bin ich nur noch HIV-positiv.“

Trotz immer effektiver wirkender Medikamente gelingt diese Erholung aber nicht bei jedem. Bei einigen im Vollbild AIDS Erkrankten bleiben starke gesundheitliche Beeinträchtigungen zurück, die Regeneration bleibt sowohl im Immunsystem als auch in der körperlichen Leistungsfähigkeit unvollständig. Bei einigen ist eine Rückkehr ins Erwerbsleben deshalb nicht mehr möglich. Manche Körper erholen sich von einer AIDS-Vollbild-Erkrankung erstaunlich schnell – andere nur sehr langsam. Individuell ist es sehr unterschiedlich.

Erlebt man selber das Vollbild AIDS bei sehr später Diagnosestellung, kann niemand vorhersagen, wie weit und wie gut die Regeneration gelingen wird. Aber es gibt Grund, Hoffnung zu haben, dass eine alte Fitness wiedererlangt werden kann.

Denn viele haben AIDS überlebt, auch wenn die Medizin diesen Sprachgebrauch nicht gelten lassen will. Das Leben findet nicht in Schubladen statt. Es liegt an uns, was wir draus machen und auf welchen Erfahrungen wir unser Identitätserleben aufbauen. Und für manche ist es einfach so: Sie hatten Aids und sind von Aids wieder gesund geworden, sind nur noch HIV-positiv. Sie hatten AIDS und haben es eben nicht mehr. So einfach ist das.

Sie zu etikettieren mit einem „Das darfst Du so nicht sagen, das stimmt doch nicht“, ist unmenschlich und unwürdig. Jeder Mensch hat das Recht, Glück und Freude zu erleben, auszudrücken und dies auch anderen mitzuteilen.

Das Leben mit HIV hat sich sehr verändert und oft dramatisch verbessert. Auch unser Sprachgebrauch muss sich diesen Veränderungen jetzt anpassen.

Be smart about HIV! Get tested! Today, there are treatment options!


Unsere Geschichte sind unsere Geschichten

November 5, 2011

–   Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns? –

Wenn ich mich an die nun 30 Jahre von HIV und Aids erinnere, spüre ich als erstes, welch mächtigen Einfluss HIV auf mein Leben genommen hat. Durch HIV kam ein Faktor ins Leben, den weder ich noch andere schwule Männer ignorieren konnten. Wir mussten eine Form des Umgangs und des Arrangements mit diesem Virus finden. Das Virus wurde eine fremdbestimmende Einflussgröße, welche Autonomie und Eigenart zu beherrschen drohte, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.

Erinnerungen sind scheu. Sie stellen sich nicht auf Kommando ein. Erinnern ist nicht planbar. Erinnerungen kommen spontan. Manchmal überfallen und erschüttern uns Erinnerungen, wenn wir gar nicht damit rechnen: Untrennbar sind Erinnerungen mit Emotionen verbunden.

Wir spüren, dass das, was wir erinnern, immer emotional besetzt ist. Überhaupt erinnern Menschen nur, was emotional bedeutsam war im Leben. Es sind oft Begegnungen mit Menschen, bei denen wir uns wohl, geborgen und sicher gefühlt haben, mit denen wir Nähe erlebt haben, eben besondere, herausragende Momente im Leben.

Wir erinnern Erlebnisse, die selbstwertstärkend waren, wo wir uns angenommen und verstanden gefühlt haben – aber eben auch genau gegenteilige Erfahrungen: Situationen von Bedrohung, Gefahr und kränkender Ablehnung. Wir erinnern Brüche und Wendepunkte im Leben, Ereignisse, die starke Veränderungen ausgelöst haben, wo etwas Neues in unser Leben hineingekommen ist.

Wenn wir uns erinnern, vergewissern wir uns dabei unserer Identität und der Kontinuität unseres Lebens. Wie bedeutsam, ja existenziell die Fähigkeit zur Erinnerung für unser Identitätserleben ist, wird deutlich, wenn Menschen durch ein Hirntrauma, Demenz oder andere Ursachen ihr Erinnerungsvermögen verlieren: Sie wissen dann nicht mehr, wer sie sind, sie sind beziehungslos und verloren in der Zeit.

Unsere Erinnerungen sind also unser Anker und unsere Verortung in der Welt und in unserer Lebensumgebung, die sich permanent verändert. Durch das Bewusstsein über den eigenen Lebensweg erhalten wir die Gewissheit und Sicherheit, wo wir hingehören, wo wir zuhause und verwurzelt sind. Erinnerung ist Halt und Orientierung. Wir identifizieren uns mit dem, was wir erlebt haben: Es ist unsere Geschichte, die wir erzählen können und es ist unser Biografie, unsere Lebensgeschichte, unsere Einzigartigkeit.

Für ein selbstbewusstes Älter-werden hat  in meinem Verständnis eine zentrale Bedeutung, möglichst umfassend zu allem, was ich erlebt habe und was ich handelnd getan habe, sagen zu können: „Ja, so war es – genau so war es!“

Angesichts von HIV und Aids wird es nun schwer, rückblickend auszuhalten, wie es war. Es sind doch viele Erinnerungen von starker und existenzieller Bedrohung: HIV machte Angst, die homophobe, sexualfeindliche Gesellschaft machte Angst – und gleichzeitig erlebten viele von uns, wie Partner, Freunde, Weggefährten, Menschen in unserem Umfeld, starben– oder auch wir selber durch HIV krank wurden.

Ob als HIV-Positiver, HIV-Negativer oder Ungetesteter: es ging ums Überleben in einer bedrohlichen und feindlichen Welt. Der Solidarität anderer konnten wir nie selbstverständlich gewiss sein. Unsere Erinnerungen sind oft bittere und schmerzhafte Erfahrungen.

Wie kann man überhaupt mit der Fülle all dieser Erfahrungen leben? Als ich einen über 60-jährigen schwulen Langzeitpositiven und HIV-Aktivisten der ersten Jahre einmal fragte: „Was machst du nur mit all deinen vielen Erinnerungen?“, antwortete dieser nach einem kurzen Moment des Innenhaltens spontan: „So schnell wie möglich vergessen!“

Diese Antwort stimmt mich nachdenklich. Ja, es ist eine Wahrheit, dass es vieles in unserem Leben gibt, an das wir uns nicht gerne erinnern, weil der Schmerz immer noch so groß ist – und wahrscheinlich auch bis an unser Lebensende groß bleiben wird.

Das ist glücklicherweise nur die eine Seite der Medaille.

Denn Not schweißt auch zusammen und angesichts der früher auszuhaltenden Not gab es oft  unerwartete Hilfe und Solidarität von außen, und es gab einen sich immer stärker organisierenden Zusammenhalt von innen. Es gab nicht nur die persönlichen Niederlagen, wenn Freunde und Weggefährten an Aids starben, es gab auch Siege, wo wir uns als starke Gemeinschaft erlebten, wo wir uns in der Gesellschaft behaupteten, Einfluss und Macht errungen und unsere Realität in die öffentliche Wahrnehmung gerückt haben.

Zum Wesen der Erinnerung gehört die Nachdenklichkeit. Beim Erinnern blicken wir aus einer veränderten Perspektive und aus zeitlicher Distanz auf das Erlebte zurück. Indem wir Erinnerungen teilen und mitteilen, bewerten wir darin das Erlebte immer wieder neu, können es in einen größeren Zusammenhang stellen und die Bedeutung der Ereignisse neu bewerten.

Und wenn wir erst einmal anfangen, uns zu erinnern, dann erinnern wir auch immer mehr! Auch vergessen geglaubte Erfahrungen werden wieder wach. Sich zu erinnern braucht Zeit – und das Erinnern widersetzt sich damit hartnäckig einem Zeitgeist, der auf Professionalität, Ergebnisproduktion und Effektivität fokussiert ist. Wer sich erinnert, geht eben nach „innen“, geht auf eine Zeitreise in seine innere Welt. Vielleicht ist das Erinnern auch deshalb eher dem Alter vorbehalten, weil dann – befreit von beruflichen Zwängen –  mehr Zeit da ist, sich zu erinnern. Gleichzeitig entsteht ein Bedürfnis, in der Fülle der eigenen Biografieerfahrungen den Überblick nicht zu verlieren: Wir finden eine Struktur, definieren Episoden und Abfolgen, konzentrieren Erlebtes in erzählbaren Geschichten.

Brauchen wir also eine neue Kultur des Erinnerns?

Ich vermag nicht zu benennen, ob wir überhaupt eine „alte“/bisherige Kultur des Erinnerns leben. Unsere Geschichte sind unsere Geschichten – und Geschichten zu erzählen wird häufig  als verstaubt und unangebracht sentimental abgewertet. Wo gönnen wir uns denn im Alltag die Zeit, uns Geschichte und Geschichten zu erzählen? Wenn aber in unserer Geschichte unsere Identität liegt, vernachlässigen wir uns selber, wenn wir unsere Geschichten nicht wertschätzen und erzählen. Es lohnt, die Erinnerungen einzuladen. Erinnerungen sind stolz: Sie kommen nur zu denen, die ein offenes Ohr mitbringen.

Ich glaube, wir brauchen zunächst eine Sensibilität und ein Bewusstsein für den Wert des Erinnerns. Unsere Erinnerungen sind ein Schatz an Erfahrungen. Schließlich leben wir noch – und verfügen offensichtlich über Fähigkeiten und Lebensweisheiten, die dieses Überleben zustande gebracht haben.

Und das gilt nun sowohl für die einzelne Person, als auch für uns als Gemeinschaft.

Michael Jähme

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Dieser Impulsvortrag war mein Beitrag zur DAH-Präventionskonferenz  „Bis hierher – und noch weiter…“, 4.-6.11.2011 in Berlin im Workshop 1.3. Neues AIDS – alte Bilder / „Es sterben doch immer noch so viele!“

Die Frage, ob es einer neuen Kultur des Erinnerns bedarf, wurde aufgeworfen in der Diskussion meines Vortrags bei den Münchner AIDS-Tagen 2010: „Langzeitpositive und schwule Senioren sind Zeitzeugen vom Leben mit HIV„.