Auf der Konferenz „HIV-Kontrovers“ erfolgte eine erste breite Debatte in NRW zwischen Ärzteschaft, öffentlichem Gesundheitsdienst, AIDS-Hilfen und Positivenselbsthilfe über die EKAF-Stellungnahme.
Podium der Abschlussdiskussion: v.l.n.r.: Prof. Vernazza, Prof. Brockmeyer, Armin Traute, Michael Jähme, Michaela Dierks
Professor Vernazza, als Präsident der EKAF Mitherausgeber der Stellungnahme, ging sachlich und konkret auf die in den letzten Monaten vorgetragene Kritik ein und stellte einiges richtig: EKAF hat das Kondom als „100% safe“ in Frage gestellt. Genau das sei jetzt die große Verunsicherung. In der Vergangenheit habe man verschwiegen, dass ein Kondom niemals einen 100%igen Schutz vor einer Ansteckung mit HIV bietet. Die Kontroverse über die EKAF-Stellungnahme entzündet sich an der Frage: „Was ist sicher genug für die Prävention?“ In der Vergangenheit habe man sich darauf geeinigt, daß Kondome sicher genug sind, um die bekannte Präventionsbotschaft „Kondome schützen“ zu benutzen.
Grundlage von Prävention sei daher immer die „Akzeptanz von relativer Sicherheit„. Kritiker hätten der EKAF vorgeworfen, dass man ein „Null-Risiko“ nicht garantieren könne. Dazu Prof. Vernazza: „Genau das haben wir auch gesagt.“
Prof. Vernazza äusserte sich auch persönlich: „Das Schöne an EKAF ist, daß Patienten denken: Ich kann auch wieder Sex haben ohne Kondom!“
Als Teilnehmer der Runde auf dem Podium verstärkte ich (Michael Jähme) die Notwendigkeit der Entängstigung bei HIV-Positiven. Ich schilderte, wie auch ich als Fachmann in der AIDS-Hilfe die auch mir schon lange bekannten Berichte zur Unterdrückung der Infektiosität bei wirksamer HAART nicht auf mich selber und auf das Leben mit HIV insgesamt bezogen habe. Erst die EKAF-Stellungnahme habe mir die Augen geöffnet, wofür ich der EKAF noch einmal meinen Dank aussprach. Als mögliche Erklärung, warum das Zögern, die Bedeutung der Berichte in ihrer Tragweite anzuerkennen, auch bei mir und in der Selbsthilfe so lange gedauert habe, äusserte ich folgenden Hypothese: In der Vergangenheit hat es immer wieder Hoffung weckende Meldungen über Impfstoffe, Heilung und neue Medikamente gegeben, denen später eine schmerzhafte Enttäuschung folgte. Menschen mit HIV und AIDS hätten aus diesen Achterbahnfahrten der Gefühle gelernt, erst einmal abzuwarten, was wirklich an einer Sache dran ist.
Die Entwicklung seit dem Auftreten von AIDS hat jetzt einen neuen Punkt erreicht, der Selbstbild und Selbstbewusstsein von Menschen mit HIV und AIDS massiv verändert. In den ersten Jahren von AIDS war es realistisch, die Mitteilung einer HIV-Diagnose zu erleben als: „Ich bin gefährlich für andere und ich werde sterben.“ Nach Vancouver, ab 1996, war es realistisch, mit einer HIV-Diagnose zu denken: „Ich werde nicht sterben, aber ich bin gefährlich für andere.“ Heute, mit den in der EKAF-Stellungnahme schlüssig dargelegten Fakten ist es möglich, eine wirksam therapierte HIV-Infektion zu erleben als „Ich bin nicht mehr gefährlich für andere und ich werde auch nicht an HIV sterben.“
Was dieses neue Erleben für eine ungeheure Entlastung mit sich bringt, dies begreifen nur wenige. Und nur die wenigsten Menschen ohne HIV-Diagnose sind bereit, diesen Wechsel in die Perpektiv eines HIV-Positiven für einen kleinen Moment vorzunehmen, um ansatzweise auch emotional zu erfahren, welche Bedeutung das „nicht mehr infektiös“ für uns HIV-Positive hat. Dass von der wirksamen HIV-Therapie eine gleiche Schutzwirkung ausgeht wie vom Kondom, diese Veränderung der Betrachtung erfordere ein anstrengendes Umdenken und sei „echte Arbeit“, die sich mir als Bild darstellt: „Im Gehirn müssen Verbindungen zwischen Gehirnzellen völlig neu geschaltet werden. Der alte Schaltplan muss ‚upgedatet‘ werden.“ Im Leben mit HIV habe sich etwas grundlegend verändert. Ich halte es für einen Irrtum zu glauben, es wäre mit einer einfachen rationalen Aufnahme der Information getan. Man müsse dies auch in seiner emotionalen Tragweite erfahren. Diese Anpassungsleistung ist sowohl für HIV-Positive wie für HIV-Negative/Ungetestete anstrengend und zunächst verunsichernd.
Daher ist es mir auch verständlich, dass jeder eine unterschiedlich lange Zeit braucht, diese grosse Veränderung auf sich wirken zu lassen, um sie dann anzuerkennen. Der Wert der Debatte auf der Konferenz „HIV-Kontrovers“ liegt für mich darin, dass wir den offenen Dialog über die Folgen der EKAF Stellungnahme jetzt begonnen haben.
Professor Vernazza relativierte die große Aufmerksamkeit, die die EKAF-Stellungahme erlangt hat: Es gibt viel gravierendere Infektionsrisken zu anderen Krankheitserregern, deren Diskussion und Aufmerksamkeit er sich wünscht. Als Beispiel nannte er das Problem, dass sich nicht jede/r in der Belegschaft eines Krankenhauses gegen Grippe impfen läßt und mit einer eigenen Grippeerkrankung dann andere Mitarbeiter und Patienten gefährde.
Professor Brockmeyer ergänzte, dass sich Ärzte und Bevölkerung der Risiken anderer Erkrankungen zu wenig bewusst seien: „HIV war immer eine besondere Erkrankung. Wir haben von dieser Sonderstellung gelebt, und das wirkt sich eben auch jetzt [in der Debatte um die EKAF-Stellungnahme] aus.“
In seinem Schlusswort begrüßte Gastgeber Prof. Brockmeyer, dass die Teilnehmer bei HIV-Kontrovers tatsächlich den Mut gefunden hätten, nach anfänglichem Zögern doch bisher nicht zugelassene Gedanken zu denken und eine kontroverse Debatte zu wagen: „Wir müssen Stellung beziehen – es geht nur kontrovers!“
Nachtrag 23.10.2008:
Die Deutsche AIDS-Hilfe schliest sich dem Mexiko-Manifest an, wie Ondamaris berichtet: In dem „Mexiko-Manifest“ , veröffentlicht von LHIVE, der Schweizer Selbsthilfeorganisation der Menschen mit HIV und AIDS, wird die Veröffentlichung der EKAF-Stellungnahme ausdrücklich begrüßt und sind Folgerungen für den weiteren Umgang mit dem Thema Infektiosität formuliert.
An die Entscheidung der DAH knüpfe ich die Erwartung, dass nun in den Mitgliedsorganisationen der DAH eine offensivere und freiere Debatte stattfindet um die Infektiosität (insbes. bzgl. Auswirkung auf Lebensqualität von HIV+ und die HIV-Prävention) und dass „eigenes Denken“ begrüßt und unterstützt wird.