„Die Angst, stigmatisiert zu werden, ist groß.“

November 15, 2009

Hans-Dieter Hermann, Sportpsychologe der deutschen Fussball-Nationalmannschaft, kommt  in einem Interview mit dem DFB anlässlich des Suizides von Nationaltorwart Robert Enke zu Feststellungen über die Auswirkungen des Lebens mit einem Stigma, die auf viele Bereiche zutreffen, in denen gesellschaftliche Stigmatisierung vorherrschen. In diesen Tagen, wo – besonders durch den mutigen Schritt in die Öffentlichkeit durch Robert Enkes Ehefrau Theresa  – das Sprech-Tabu über ein Leben mit Depressionen gebrochen wird, erkenne ich mich immer wieder auch in der von mir erlebten und von anderen berichteten Stigmatisierung des Lebens mit einer HIV-Infektion wieder.

Theresa Enke gebührt mein respektvoller Dank, dass sie ein Tor zum Nachdenken über den gesellschaftlichen Umgang mit stigmatisierten Lebenslagen aufgestoßen hat. Mit dem Anliegen, Stigmatisierung zu überwinden, ist die Vision einer menschlichen und solidarischen Gesellschaft verbunden, in der Menschenwürde und Menschenrechte verwirklicht werden. Und wo nicht an psychischen oder physischen Krankheitsbildern und  religiösen oder weltlichen Ideologien Trennlinien errichtet werden.

So sind dieser Tage viele Äusserungen von privaten und öffentlichen Personen  – wie beispielhaft hier von Sportpsychologe Dr. Hermann und DFB-Präsident Theo Zwanziger – auch auf die Erfahrungen und Lebenssituationen von Menschen mit einer HIV-Infektion durchaus übertragbar. Unter dem Druck eines Stigmas zu leben potenziert häufig den Streß einer Krankheit und kann zu einer als ausweglos erlebten Überforderung anwachsen und auch in einen Suizid hineintreiben:

Frage: Verdrängt unsere Gesellschaft das Thema Depression? Wollen wir alle vor depressiven Menschen die Augen verschließen?

Hermann: Psychiatrische Erkrankungen werden in unserer Gesellschaft stark verdrängt. Noch problematischer ist jedoch, denke ich, dass es ein Stigma gibt für Menschen, die davon betroffen sind. Das führt häufig zu einer Verstärkung der Symptomatik und zu weiteren Problemen. Darauf weisen Psychiater immer wieder hin.

Und so ist es häufig auch für Menschen mit HIV eine große und manchmal überfordernde Kraftanstrengung, ihre HIV-Infektion am Arbeitsplatz aus Angst vor den bedrohlichen Reaktionen ihrer Mitmenschen zu verheimlichen.

Die Parallele zum Suizid von Robert Enke wird auch in diesen Worten von Dr. Hermann deutlich:

Das ‚immer-funktionieren-müssen’ ist für jeden eine Qual, der sich gerade gar nicht danach fühlt. Egal ob er krank ist, sein Kind krank ist, er einen Verlust verarbeiten muss oder sich die prinzipielle Frage stellt, ob seine berufliche Tätigkeit für ihn überhaupt noch sinnvoll ist.

Viele HIV-Positive fordern sich genau dieses „immer funktionieren müssen“ ab, um nicht aufzufallen, auch wenn sie dadurch körperliche und seelische Grenzen missachten.

Für Betroffene hat die Einschätzung der Öffentlichkeit und deren Umgang mit ihrer Erkrankung  eine zentrale Bedeutung. Dazu Dr. Hermann:

Menschen sind keine Maschinen und auch Profispieler sind Leistungsschwankungen unterworfen, für die man oft keine Gründe findet. Das hat meist nichts mit Motivation oder gar Charakter zu tun. Auch wenn Profispieler teilweise sehr viel Geld verdienen, können sie immer nur das Beste geben, zu dem sie aktuell in der Lage sind. Ich würde mir wünschen, dass die Öffentlichkeit den Spielern – bei aller berechtigten Enttäuschung über eine schwächere Leistung – das Vertrauen gibt, dass sie von der Einstellung her Maximales leisten wollen.

Gleiches gilt für Menschen mit HIV (und auch für Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen), egal ob am Arbeitsplatz, im Ehrenamt oder im privaten Leben. In unserem Leben mit HIV sind wir „Profis“ und Alltagsexperten, eine chronische Erkrankung zu meistern. Brauchbare Strategien für das Leben mit einer stigmatisierten Erkrankung muss man erst erlernen – und fast alle schaffen dies auch, aber auch hier nicht alle.

Was würde sich nun verändern, wenn das Tabu sich löste und die Gesellschaft einen akzeptierenden Umgang mit der zuvor tabuisierten Realität entwickeln würde. Sportpsychologe Dr. Hermann erläutert, dass Betroffene…

… im Zweifelsfall weniger Energie für das Versteckspiel brauchen und auch schneller Hilfe bekommen können. Dazu bräuchte man aber mehr als nur ein paar Wenige, die nach außen gehen. Die Angst, stigmatisiert zu werden, ist groß. Manche – wie es auch Teresa Enke für Robert beschrieben hat – fürchten sich existenziell.

Alle Zitate von Dr. Hermann sind diesem Interview entnommen.

Was ist zu tun und welche Rolle hat  jeder Einzelne dabei? Dazu findet DFB-Präsident Theo Zwanziger in seiner Ansprache bei der Tauerfeier im Hannöverschen Fussballstadion klare Worte, die über den Tod von Robert Enke und den Fussball hinaus Gültigkeit haben:

Wir alle sind dazu aufgerufen, …  unser Leben wieder zu gestalten, … in ihm einen Sinn, nicht nur in überbordenden Ehrgeiz zu finden. Maß, Balance, Werte wie Fairplay und Respekt sind gefragt. … Ihr könnt unglaublich viel dazu tun, wenn ihr bereit seid, aufzustehen gegen Böses. Wenn ihr bereit seid, Euch zu zeigen, wenn Unrecht geschieht. Wenn ihr bereit seid, dass Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft (….) zu brechen. Ihr könnt mithelfen, mit Eurem ganz persönlichen Engagement. … Ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Stück mehr Zivilcourage, ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Menschen, des Nächsten, des Anderen. Das wird Robert Enke gerecht. …“

Wie ich, so werden auch viele andere Menschen mit HIV durch die Ereignisse um den Suizid von Robert Enke mit eigenen Erlebnissen von Verlusten, Trauer, Depression und Stigmaerfahrungen konfrontiert, manche auch mit ihren Suizidgedanken oder Suzidversuchen. Robert Enkes Streß war/ist oft auch unserer, seine Angst davor, alles zu verlieren, wenn seine Depression bekannt geworden wäre, spiegelt sich in unserer Angst, unsere Existenz zu riskieren, wenn wir uns mit HIV outen. Auch Menschen mit HIV kann dieser permantene Streß erdrücken, sie werden chronisch depressiv und/oder begehen Suizid.

Auch für diejenigen, die mit ihrer HIV-Infektion an die Öffentlichkeit gehen, ist es kräftezehrend und anstrengend, über Jahre  im Stigmatisierungs-Gegenwind der Gesellschaft zu leben. Aber sich zu outen, dies ist unser persönlicher Weg, unsere Menschenwürde zu wahren, unsere Lebensrechte zu behaupten und unsere Lebensräume gegen alle Widerstände zu erstreiten und zu erhalten. Im direkten persönlichen Umfeld gelingt es dann sehr oft, bestehende Stigmatisierungen aufzulösen.

Auch wir HIV-Positiven sind keine Maschinen. Besonders die gelebte und erlebte Solidarität unter HIV-Positiven und allen Mitstreitern für ein menschliches Zusammenleben in Vielfalt,  frei von Dogmen und Ideologien, macht stark und ist ein sehr wirksames Mittel gegen ansonsten drohende chronische Depression oder Resignation.

Frau Theresa Enke möchte ich auf diesem Weg aus der Ferne meine  aufrichtige Verbundenheit ausdrücken.  Und ich möchte Ihnen „Danke“ sagen, dass Sie sich entschlossen haben, der Öffentlichkeit die Depressionserkrankung Ihres Mannes mitzuteilen.

Möge dieser 10. November eine Wirkung entfalten, die den Lebenswerten Ihres verstorbenen Mannes gerecht wird, –  und der Botschaft, die auch von Ihren Worten und Ihrer Präsenz in diesen Tagen ausgeht.