WEITERLEBEN: Gegen den Strom ins Leben

Am 1. Dezember 2012 fand in der Frankfurter Paulskirche die 19. Gedenkveranstaltung der AIDS-Hilfe Frankfurt zum Welt-Aids-Tag statt. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto ‚WEITERLEBEN‘. Im Folgenden als Dokumentation die von mir, Michael Jähme, dort gehaltene Rede:

Gegen den Strom ins Leben

Liebe Freunde und Freundinnen, sehr geehrte Damen und Herren!

Von den Veranstaltern wurde ich als Redner eingeladen, weil ich in den letzten Jahren bewusst über das Älterwerden mit HIV und über den Umgang mit Erinnerungen und Geschichte nachgedacht und öffentlich gesprochen habe. Dies möchte ich heute mit einigen neuen Aspekten fortsetzen.

Ich lebe als schwuler Mann nun schon über 22 Jahre mit der Diagnose HIV. Ich bin jetzt 53 Jahre alt, und damit viel älter geworden, als ich es mir am Tag der HIV-Diagnose im April 1990 je zu träumen wagte. Ich bin nicht traurig, bis heute weitergelebt zu haben. Im Gegenteil, ich empfinde Glück und Lebensfreude darüber. Und in dieser Lebensstimmung bin ich viel stärker beheimatet als in der Trauer.

Das Leben mit HIV, wie ich es in den frühen 90er Jahren erlebt habe, war geprägt von einer Todesbedrohung und großen persönlichen Unsicherheit um die eigene Zukunft. Intensiv war der Zusammenhalt unter den HIV-Positiven, wir fühlten uns als Schicksalsgemeinschaft. Neben all der Trauer um Weggefährten und Freunde, die erkrankten und starben, gab es auch eine eigenartige intensive Emotionalität, gespeist von Vitalität, Lebenslust und Bewusstsein der eigenen Stärke und des Rechts auf Leben. Der von außen kommenden und auch teils verinnerlichten Zuschreibung von „Todgeweihten“ mussten wir einen Lebenswillen entgegensetzen, um überhaupt weiterleben zu können. Es galt, sich gegen die Zuschreibungen von und über HIV zu behaupten.

Dieser Zustand dauerte mehrere Jahre an. Groß angekündigte hoffungsvolle Therapiefortschritte entpuppten sich immer wieder nur als Luftnummern. Um nicht permanent die anstrengende Achterbahnfahrt von Hoffnung und Absturz in die Enttäuschung durchleben zu müssen, wurden wir gegenüber Versprechungen über therapeutischen Fortschritt skeptisch. Das Erleben der Erkrankungen und des Sterbens an Aids um uns herum gab dieser Skepsis ja auch Recht. Die vom Wunsch getragene Erwartung der 80er Jahre, dass die medizinische Forschung schnell eine Therapie oder Heilung von HIV finden würde, blieb enttäuscht.

Realistische Hoffnungen auf Lebensrettung entwickelten sich Mitte der 90er Jahre. Kombinationstherapien brachen die Macht des HIV über unsere Körper, nährten Hoffnung und ermöglichten neue Lebensperspektiven. In der AIDS-Hilfe NRW nahm ich im September 1997 an einer „Zukunftswerkstatt“ mit dem Titel „Von der Zeit nach AIDS“ teil. Der visionäre Titel löste damals teils heftige abwehrende Empörung aus. In der Dokumentation dieses Workshops findet sich folgendes Zitat von mir: „Das ‚Opi’ werden im positiven Sinne würde mir gefallen.“ Die Lust, weiterleben und von den eigenen Erfahrungen erzählen zu wollen, hat mich also schon damals getragen und es scheint, dass ich inzwischen das Großvatersein erreicht habe. 22 Jahre leben mit HIV, das macht alt, da hat man viel zu erzählen…

Trotzdem blieb auch in den 90er Jahren bei mir die Skepsis noch lange lebendig: Wie lange würde die Schutzwirkung der Kombitherapien andauern? Wie lange dauert es, bis Resistenzen da sind? Wie gefährlich sind die Nebenwirkungen und Langzeitnebenwirkungen? Meine Lebensstimmung war geprägt von der Erfahrung: „Es hilft!“, aber gleichzeitig blieb die Verunsicherung des „Aber wie lange wird es gut gehen?“

Gefühlt saß mir HIV immer noch bedrohlich nah im Nacken. Rückblickend habe ich für diese Zeit ein symbolisches Bild gefunden: Ich sehe mich als Schwimmer, der im Wasser alle Kraft aufwenden muss, gegen eine starke Strömung anzuschwimmen und gegen einen Sog anzukämpfen, der drohte, mich unter Wasser zu ziehen und in einem riesigen Strudel zu verschlingen.

Ich verstehe dieses Bild aus heutiger Sicht so: Wenn man mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, hat man zum Erinnern und zum Blick zurück keine Zeit. Innehalten und den Blick zurückzuwenden war gefährlich und somit gar nicht möglich. Überleben ging nur mit dem Blick und aller Konzentration nach vorne.

Für mich war es dann wohl um das Jahr 2003, als ich begann, mich mit der Kombitherapie dauerhaft sicher zu fühlen. Wieder in das Bild vom Schwimmer einsteigend, erlebte ich mich nun in ruhigeren Gewässern. Die Todesbedrohung war weg, ich hatte HIV überlebt, und nun ist es auch möglich, innezuhalten, den Blick zurückzuwenden und anzufangen zu verstehen, was ich und wir da eigentlich an Schrecken erlebt und überlebt haben.

Gesellschaftlich herrschten aber noch ganz andere Bilder vom Leben mit HIV vor: HIV-Positive wurden ausschließlich als Kranke, als Opfer dargestellt. Das Leben mit HIV wurde zwar allmählich nicht mehr vom Tod, aber doch immer noch von den Nebenwirkungen der Medikamente her präsentiert.

Was ganz eindeutig fehlte, war die Perspektive, Menschen mit HIV auch als Sieger, als erfolgreiche Kämpfer zu zeigen, die selbstbewusst und stolz sind auf das, was sie über all die Jahre überlebt und in ihrem Leben erreicht haben. Und was sie sich im Gegenwind der Vorurteile an Lebensraum erkämpft haben. Ohne es zu bemerken, sind wir Zeitzeugen geworden, Zeitzeugen einer Zeit, als es noch keine HIV-Medikamente gab, als Freunde und Weggefährten einer nach dem anderen wegstarben und ein unvorstellbarer massenmedialer moralisch unterlegter Hysteriesturm die Republik erfasste.

Mir geht es heute darum, ein Bewusstsein zu wecken, dass es eine zu würdigende Lebensleistung ist, diese schwierigen Zeiten überlebt zu haben. Wir sind Zeitzeugen – und diesen Begriff verstehe ich als Ausdruck dessen, dass wir authentische Träger einer Erfahrung sind, die es wert ist, bezeugt und im kollektiven Gedächtnis bewahrt zu werden.

Wir müssen lernen, über die Vergangenheit zu reden, uns mitzuteilen, unsere Erlebnisse in Worte zu fassen, Unausgesprochenes auszusprechen, vielleicht auch erst einmal auszuprobieren, Worte zu suchen und zu finden. Und weil das, was wir erinnern, immer emotionale Momente sind – anderes vergessen wir nämlich – gehört zum Erinnern auch das Wiedererleben der Gefühle von damals. All die Angst und Enge, die Gefahr und der Schmerz über erlebte Gefahren, Demütigungen und Verluste, aber auch erlebt Solidarität und all unsere Lebendigkeit und Lebenskraft ruhen in unseren Erinnerungen. Es tut gut, anderen Geschichten erzählen zu können von dem, was wichtig war im Leben. Um wirklich lebendig zu werden, ist es wichtig, nicht nur informativ zu berichten, sondern emotional beteiligt zu erinnern mit einem „Stell dir das mal vor! So war das damals!“ Und dafür brauchen wir Gesprächspartner, deren Wertschätzung und deren aufrichtigem Interesse wir gewiss sein können.

Natürlich hat die Erfahrung von HIV unser Leben geprägt und manche Pläne verhindert. Mich überzeugt aber ein Satz der von mir sehr geschätzten Psychotherapeutin Verena Kast, die sagt: „Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben!“ Damit rückt sie genau das in den Vordergrund, was ich mit der Rolle des Zeitzeugens meine: Das was ich – und jeder von uns – mit HIV erlebt hat, hat einen Wert. Das Leben mit HIV hat einen Wert – und wenn es noch so viel Stigmatisierung und Diskriminierung gibt. Wir müssen anfangen, uns selber mehr wertzuschätzen – und wir sollten uns selber Räume schaffen, in denen wir gegenseitig unsere Geschichten erzählen können. Wenn wir Geschichten von unseren Erlebnissen erzählen, können wir ihnen einen Ort und eine Bedeutung in unserem Leben geben. Und im Lebensrückblick kann sich die Bedeutung eines Erlebnisses auch verändern, können sich die prägenden und auch die selbstwertstärkenden Kräfte entfalten, wie es uns gelungen ist, weiterzuleben.

Ich sehe es als eine Zukunftsaufgabe für Aidshilfen, diese Orte der Begegnung und des gemeinsamen Erinnerns herzustellen. Ich fürchte, es gibt viele Menschen mit HIV, die ihre Geschichten noch nicht erzählt haben. Genau dies haben die Interviewer und Interviewerinnen des gerade abgeschlossenen Projekts „positive-stimmen“ erlebt. Weil sie auf Menschen mit HIV direkt zugegangen sind und hören und erfahren wollten, was sie an HIV-bezogener Stigmatisierung erlebt haben, ergab sich für viele HIV-Positive erstmals die Gelegenheit, teils sehr belastende und erschreckende Erfahrungen mitzuteilen.

Ich bin überzeugt, dass es besonders für das Älterwerden mit HIV wichtig ist, über das eigene Leben mit HIV zu erzählen. Für ein gutes Identitäts- und Selbstwertgefühl ist es wichtig, anzuerkennen und damit wahr werden zu lassen, was war und was ist. Ein Bewusstsein für die eigene Biografie und ein Bewusstsein über den Wert des eigenen Lebens schützt zudem präventiv vor Depressionen, die bei HIV-Positiven häufiger festgestellt werden.

Gemeinschaftliche Biografiearbeit in kleinen Gruppen ist dafür eine sehr geeignete Methode. Biografiearbeit kann Bedürfnissen von Menschen mit HIV entsprechen, die mehr brauchen als eine kurze sozialpädagogische Beratung – aber weniger als eine lange Psychotherapie. Wir müssen nicht alle auf die Couch, oft reicht auch ein einladender freier Stuhl im Kreis einer Gruppe.

Unser gelebtes Leben ist ein großer Schatz und eine reiche Ressource von Fähigkeiten. Meine Vision ist, dass wir aus der Trauer erwachen. Und dass wir die in der Trauer und in der Erinnerung gebundene Kraft befreien für unser Leben heute und morgen.

Wir haben doch gelernt, gegen den Strom zu schwimmen und uns zu behaupten. Das hat uns nicht nur Kraft gekostet, es hat uns auch stark gemacht.

***

Nach Ende meines offiziellen Redetextes schloss ich spontane Worte des Erinnerns an Markus Volk an, der wenige Tage zuvor am 27.11.2012 in Frankfurt gestorben ist. Markus war mit seiner HIV-Infektion öffentlich, seit 2008 als Rollenmodell in der Präventionskampagne „Ich weiss was ich tu“ und im Jahr 2010 als Botschafter der ersten Staffel der neuen Kampagne „Positiv zusammen leben“. Markus hat das gelebt, womit ich in meiner Rede ende.

Anlässlich des Starts der Kampagne „Positiv zusammen leben“ 2010 wurde ihm in einem Interview die Frage gestellt: Hast du eigentlich keine Angst davor, dass du jetzt in der Öffentlichkeit mit triefendem Mitleid überschüttet wirst?

Markus antwortete entschieden: „Nein, denn ich lasse den Leuten gar nicht die Wahl. Wenn mir ein Reporter traurig in die Augen guckt, dann sage ich dem ganz schnell: „Passen Sie mal auf, das ist genau das, was wir nicht wollen. Wir wollen zeigen, dass wir stark sind!“ Und die, die nicht stark sind, wollen wir schützen.“  

 

2 Responses to WEITERLEBEN: Gegen den Strom ins Leben

  1. Diego62 sagt:

    Sicher war ich mir nicht, aber nun doch, dass du einer der Redner in der Paulskirche warst. Danke für deine Worte. Dein betrachten des Memorial „Verletzte Liebe“ das niederlegen der Rose die du bei dir getragen hast fand ich schön und ein Bild Wert.
    Gerne hätte ich später im Switchboard mit dir gesprochen aber ich hätte wissen müssen, das du mit den Veranstaltern und Rednern nicht im Switch zu finden sein wirst. Schade, eine Gelegenheit verpasst.

Hinterlasse einen Kommentar