Suizid und HIV

Eine HIV-Diagnose kann auch heute noch bei HIV-Positiven existentielle Erschütterungen auslösen und bis zum Suizid führen. Ein in 2003 mit HIV-diagnostizierter Mann erzählte mir in der entspannten Atmosphäre eines Kölner Szenelokals bei einigen Glas Kölsch seine Geschichte. Mich macht betroffen und traurig, dass auch heute noch, in den Zeiten der hoffnungsvollen Therapierbarkeit, durch eine HIV-Diagnose das eigene Leben so sehr als nicht mehr lebenswert erfahren wird.

Matthias – so nenne ich ihn hier – war 38 Jahre alt, als er im Jahr 2003 HIV-positiv getestet wurde. Wo er sich angesteckt haben könnte, ist ihm ein Rätsel. Safer Sex war sein Standard. Er kannte Freunde, die an AIDS erkankten und die er in ihrem langen Leiden und Sterben miterlebte.  Matthias hat viel erlebt. Als er nun selber seine HIV-Diagnose bekam, waren Matthias sofort diese alten Erlebnisse bildhaft vor Augen. Er sah auf sich den gleichen Leidens- und Krankheitsverlauf zukommen. Dies machte ihm Angst und diese Angst trieb ihn um. Als Ausweg sah er nur den Suizid.

Vier Wochen nach seiner HIV-Diagnose bereitete er seinen ersten Suizidversuch mit Tabletten vor. Alles war da, er trank sich einen guten Wein, und wollte dann die Tabletten einnehmen, als das Telefon klingelte und  ein guter Freund anrief. Dieser war aufmerksam und erkannte die Stimmungsveränderung an Matthias. Bei dem Freund gingen die Alarmglocken an und er spürte Matthias Suizidbereitschaft. Er sagte: „Ob es dir passt oder nicht: Ich ruf dich jetzt alle 15 Minuten an! Und wenn du nicht drangehst, rufe ich die Polizei! Du bringst dich NICHT um!“ Der Freund hat nicht locker gelassen und so hat Matthias diesen Tag überlebt.

Matthias stellte fest: so kriegt er das mit dem Suizid offenbar nicht hin. Der Gedanke, nicht mehr leben zu wollen, blieb weiter lebendig. Er überlegte sich einen andere Strategie: Auf seiner Arbeit machte er bewußt Überstunden, um sich danach 2 Tage frei zu nehmen, 2 Tage, an denen ihn keiner vermissen würde – und an denen er den Suizid ungestört schaffen könnte. Um sein Überstundenkonto schneller aufzufüllen, fakte er die Eintragung seiner Arbeitszeiten.

Diesmal war es eine vorgesetzte Kollegin, der diese Ungewöhnlichkeiten und Ungenauigkeiten auffiel: Sie  sprach Matthias direkt an und fragte, was denn eigentlich los sei. Matthias fasste Vertrauen, packte aus und erzählte ihr von HIV und von dem, was ihn so belastet. Die Vorgesetzte zeigte Verständnis, war bereit, über das Fehlverhalten hinwegzusehen und Matthias in seiner Lebenskrise ihm Rahmen ihrer Möglichkeiten zu entlasten und zu unterstützen. Beide wurden sich einig, wie Matthias den Schaden für die Firma wiedergutmachen konnte. Und Matthias sollte sich psychotherapeutische Hilfe holen.

Der Suizidgedanke lies ihn aber nicht los. Selber wollte er nicht so eine Leidenszeit erleben und aus eigener Erfahrung kannte Matthias ja auch die Belastung, die das sich Kümmern um kranke und sterbende Freunde für andere bedeutet. Dass ANDERE sich nun einmal ähnlich würden um IHN kümmern müssen, diese Belastung wollte er anderen Menschen nicht zumuten.

Matthias beschloss, einen Motorradführerschein zu machen. „Eigentlich, um mich dann mit 180 Sachen vor die Wand zu fahren,“ wie er sagt. Er meldete sich bei einer Fahrschule an und nahm Fahrstunden. Mit der Zeit kehrte aber genau über das Erlebnis des Motorradfahrens seine Lebenslust zurück. Das Leben begann, auch wieder schön zu werden.

Matthias suchte sich einen Psychotherapeuten und hat heute wieder Boden unter den Füßen. Aber trotzdem: bis vor kurzem hat er sich sehr eingeigelt und lebte zurückgezogen. Wenn Matthias neue Männer kennenlernte, ging er offen mit seiner HIV-Infektion um. Schmerzhaft erinnert er sich an kränkende und diskriminierende Reaktionen von Männern, die er kennenlernte auf der Suche nach einer festen Partnerschaft. Auch wenn zunächst seine HIV-Infektion kein Problem zu sein schien, passierte dann doch nach Wochen der Bruch und die Trennung. Da bekam Matthias z.B. diesen Spruch zu hören: „Du stirbst ja doch bald – und ich suche was Längeres für mein Leben.“

Heute ist Matthias froh, dass er am Leben ist, ja er freut sich richtig darüber. Er ist dankbar, dass die Menschen um ihn herum so konsequent-aufmerksam waren, ihn in seiner Suizidgefährung zu erkennen und zu reagieren. HIV hat sein Leben sehr verändert. Die allgemeine Lebens-Verunsicherung ist ihm noch anzumerken. Aber das Leben mit HIV gelingt ihm offenbar immer besser.

Eigentlich kennen wir uns noch gar nicht lange: Ein paar Male gechattet, gelegentlich in den Kneipen gesehen und auch schon mal ein Kölsch zusammen getrunken. Irgendwann kam dann auch HIV zur Sprache. Ich gehe ja auch selber offen mit meiner HIV-Infektion um und habe keine Scheu, direkt zu sein. Mein Outing macht es dann anderen auch leichter.

Wenn sich spontan solche Gespräche ergeben, wie an diesem Abend zwischen mir und Matthias in der Kneipe, dann erlebe ich die schwule Szene, die von manchen als oberflächlich und verletztend beschrieben wird, als Heimat und nicht als Horror. Auf schwule Kneipen als soziale Orte für Gemeinschaft und Freundschaft mag ich nicht verzichten. Ich lebe nach dem Motto: „Die Szene bist DU!“  Das wirkliche Leben spielt sich eben nur in der realen Welt ab. Und die will ich mitgestalten.

Vielleicht habe ich nicht alles ganz wirklichkeitsgetreu behalten, was Matthias mir erzählte. Ich mochte ihn auch nicht zu oft unterbrechen. Es gibt ja auch noch weitere Abende, und Kölsch wird täglich frisch gebraut. 🙂

An der Geschichte von Matthias wird mir bewußt, wie stark die Erinnerungen und die Bilder von unseren an AIDS gestorbenen Freunden in unserem persönlichen und kollektiven Gedächtnis eingegraben sind. Mir wird bewußt, wie spontan diese Bilder wieder lebendig werden, wenn Menschen plötzlich selber mit einer HIV-Diagnose konfrontiert sind. Und wie machtvoll diese inneren Bilder wirken. Und wie das Ermutigende und Hoffnungsvolle der heutigen Therapierbarkeit über den umfassenden seelischen Schmerz der HIV-Diagnose bei manchen nicht ausreichend hinweghelfen kann.

Wieviel versuchte Suizide und wieviel durchgeführte Suizide auf Grund von HIV mag es geben?

7 Responses to Suizid und HIV

  1. TheGayDissenter sagt:

    Danke, dass Du diese andere Seite der Schwulen Szene, die eben, wie Du schreibst, auch Heimat bedeutet, die eben nicht nur aus Eintagsfliegen, Dramaqueens und Oberflächlichkeiten besteht, erwähnst.

  2. termabox sagt:

    @ TheGayDissenter:
    Aber gerne doch. Wenn man sich einen gesunden Eigensinn bewahrt, findet man auch in Kneipen, in Saunen oder gar im dunkelsten Darkroom einfach „ganz lebendige Männer“, eben diejenigen, die nicht nur glänzen und blenden wollen, sondern wo alle menschlichen Seiten da sind. Und solche Männer mag ich am liebsten. Dann steckt auch in den kleinen Dramen, die man sich erzählt, nicht nur das nachträgliche Erschrecken über die von mir unbemerkt vom anderen überstandenen Gefahren, sondern auch die Freude darüber, dass es möglich ist, sich in dieser Offenheit zu begegnen.

  3. TheGayDissenter sagt:

    Nun, ich denke es kommt darauf an, die Schwule Szene nicht nur auf Saunen und das nächtliche Treiben in Disko zu reduzieren.

  4. Campori sagt:

    Sehr schöne und informative Seite

    Weiter so.. 🙂

    LG

    Campori

  5. termabox sagt:

    @ Campori:

    danke fürs feed-back und das „weiter so“ 🙂

    I’ll do my very best 😉

  6. […] Zu oft höre ich in meiner Beratungsarbeit von Suizidabsichten oder retrospektive von überlebten Suizidversuchen. Die HIV-Infektion generell als tödliche Krankheit darzustellen, treibt psychisch belastete und […]

  7. […] Wie ich, so werden auch viele andere Menschen mit HIV durch die Ereignisse um den Suizid von Robert Enke mit eigenen Erlebnissen von Verlusten, Trauer, Depression und Stigmaerfahrungen konfrontiert, manche auch Suizidgedanken oder Suzidversuchen. Robert Enkes Streß war/ist oft auch unserer, seine Angst davor, alles zu verlieren, wenn seine Depression bekannt geworden wäre, spiegelt sich in unserer Angst, unsere Existenz zu riskieren, wenn wir uns mit HIV outen. Auch Menschen mit HIV kann dieser permantene Streß erdrücken, sie werden chronisch depressiv und/oder begehen Suizid. […]

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