HIV-Infektiosität – kann eine wirksame antiretrovirale Therapie in Partnerschaften das Kondom ersetzen?

Dieser Beitrag wurde erstmals von mir gepostet am 16.02.2008 im damals bestehenden Blog der Kampagnenseite www.welt-aids-tag.de. Leider wurde der Blogbereich dort im Juli 2008 komplett abgeschaltet. Auf vielfachen Wunsch mache ich meine alten Beiträge hier wieder zugänglich.

Nachtrag 21.09.2008: Dr. Vernazza hat in seinem Bericht von der Internationalen AIDS-Konferenz in Mexiko im August 2008 (siehe S. 9-10) klargestellt:

… konnten wir nochmals richtig stellen, was vor allem in Deutschland immer wieder falsch interpretiert wurde: Das schweizer Statement hat sich nie nur an heterosexuelle Paare gerichtet. Die Grundlage für das Statement ist die fehlende Beobachtung von HIV-Transmissionen unter einer guten Therapie. Das gilt für alle Paare.“

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HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös“ – diese Stellungnahme der „Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen“ (EKAF) wurde am 30.1.08 in der Schweizer Ärztezeitung veröffentlicht. Die EKAF führt in ihrem Papier sehr sorgfältig und präzise aus, wie sie zu dieser Einschätzung kommt. Professor Pietro Vernazza geht auch in zwei Beiträgen auf die Aspekte für die HIV-Prävention ein.

Leser sollten diese Veröffentlichung ebenso sorgfältig wie aufmerksam lesen, weil jedes Wort Gewicht hat und die Botschaft der EKAF nur in ihrer Gesamtheit gilt. Der Text der EKAF ist gut verständlich und ich möchte ihn hier daher nicht interpretierend wiederholen und verweise auf den link.

Doch eine Kernbotschaft der EKAF vorab: In serodifferenten Partnerschaften (eine Person HIV-positiv, die andere HIV-negativ) obliegt die Entscheidung, ob auf ein Kondom verzichtet werden soll, immer dem HIV-negativen Partner.

Schon seit längerem ist bekannt, dass die Höhe der Virusaktivität (Viruslast) eine bedeutende Rolle für die Übertragungs- und Ansteckungswahrscheinlichkeit spielt. Über 50% der Neuinfektionen in Deutschland finden über Menschen statt, die sich selber frisch mit HIV angesteckt haben und in dieser Phase der akuten HIV-Infektion eine sehr stark erhöhte Virusaktivität aufweisen. Sie wissen und vermuten nicht, sich mit HIV angesteckt zu haben, verwenden beim Sex keine Kondome und übertragen so HIV an ihre Sexpartner und Sexpartnerinnen.

Auch in der Begleitung von HIV-positiven Schwangeren wird seit vielen Jahren auf die Viruslast der Mutter geachtet. Medizinisches Ziel ist es, die Viruslast der Schwangeren durch den Einsatz der HIV-Medikamente unter die Nachweisgrenze zu bringen. Dadurch wird das Übertragungsrisiko auf das Neugeborene sehr wesentlich reduziert.

Ziel des Einsatzes der HIV-Medikamente bei HIV-Positiven ist es in jedem Fall, die Virusaktivität wirksam und dauerhaft zu blockieren, auf diese Weise das Immunsystem zu entlasten, eine Regeneration des Immunsystem zu ermöglichen und den krankheitsfreien Zustand (abgesehen von der nicht heilbaren HIV-Grunderkrankung) langfristig zu stabilisieren. Seit etwa 1995 stehen Medikamente zur Verfügung, mit denen dieses Ziel bei den meisten HIV-Positiven dauerhaft erreicht wird.

Für HIV-Positive hat sich dadurch die Lebensqualität dramatisch verbessert: Bei regelmäßiger Medikamenteneinnahme kommt es zu weniger HIV-bedingten Erkrankungen. Die Zahl der Todesfälle an AIDS ist sehr stark zurückgegangen. Wermutstropfen bleiben die begleitenden Nebenwirkungen und damit verbundenen Gesundheits-Risiken. Der Nutzen der erfolgreichen Viruskontrolle überwiegt den durch Nebenwirkungen verursachten Schaden deutlich. Wenige HIV-Patienten reagieren auf die Medikamente körperlich so stark, dass eine HIV-Therapie nur eingeschränkt durchführbar ist.

Neben dem subjektiv erlebten Gesund-bleiben hat die wirksame HIV-Therapie den nicht selber unmittelbar spürbaren, sondern nur über das Blutlabor erkennbaren Effekt, dass auch die Infektiosität sinkt, also die Übertragungsgefahr auf HIV-negative Partner sich verringert, was besonders für das Leben von Sexualität eine große Bedeutung hat.

Bisher sprach aber niemand öffentlich davon, dass dies in Partnerschaften, wo eine Person HIV-positiv, die andere HIV-negativ ist, bedeuten könnte, dass ein Kondom als Schutz vor einer HIV-Übertragung nicht mehr nötig sein könnte, dass die wirksame HIV-Therapie quasi das Kondom ersetzt. Die EKAF spricht nun das aus, was im Gespräch zwischen Arzt und Patienten schon seit einigen Jahren Thema gelebten Alltags und beobachteter Erfahrungen ist. Dass eine anerkannte Ärztegruppe jetzt diesen mutigen Schritt geht, darin liegt die große gesundheitspolitische Bedeutung und Brisanz.

Einen streng wissenschaftlicher Beweis, dass eine HIV-Übertragung unter wirksamer HIV-Therapie nicht möglich ist, kann auch die EKAF nicht liefern und sie garantiert dies auch nicht. 100%ige Sicherheit gibt es nicht – diese gibt es aber auch nicht beim Safer Sex, also Kondomgebrauch.

Die Beobachtung in Studien an heterosexuellen Paaren über einen langen Zeitraum zeigte aber, dass auch bei Sex ohne Kondom keine HIV-Übertragungen vorkamen, wenn bei der HIV-positiven Person die HIV-Therapie dauerhaft wirksam war – und keine sexuell übertragbare Erkrankung vorlag, die nämlich sowohl beim HIV-Positiven die Virusaktivität an der erkrankten Körperstelle erhöht und beim HIV-Negativen an den erkrankten Hautpartien die Aufnahme von HIV begünstigt.

Die EKAF spricht über das, wozu sie Aussagen machen kann. Da bisher keine Studien an homosexuellen Paaren durchgeführt wurden, kann die EKAF dazu auch keine Aussagen machen. Dies ist der EKAF nicht vorzuwerfen, wie von manchen Stellen kritisiert. In der Folge der Veröffentlichung der EKAF sollten nun aber Studien/Beobachtungsstudien begonnen werden, um auch Erkenntnisse über HIV-Übertragungen bei serodifferenten homosexuellen Paaren zu ergänzen.

In den Tagen seit der Veröffentlichung der Stellungnahme der EKAF haben sich viele Stellen besorgt über die Folgen für die Prävention gezeigt. Kaum jemand hat sich dazu geäussert, welchen Stellenwert die Aussagen der EKAF für den Lebensalltag von HIV-Positiven haben. Dabei war es das Hauptanliegen der EKAF, „Menschen mit und ohne HIV-Infektion Ängste zu nehmen und dadurch einem Teil der … HIV-infizierten Menschen ein weitgehend ’normales‘ Sexualleben zu ermöglichen.“

Das Robert-Koch-Institut (rki) nimmt beispielsweise auf seiner webside in einer ausführlichen Kommentierung die Rolle des advocato diaboli ein, spürt rein medizinwissenschaftlich alle Unwägbarkeiten und noch nicht 100%ig abgesicherten Aussagen der EKAF auf und geht damit faktisch-wissenschaftlich vor.

Auf meine berufliche Alltags-Beratungssituation in der AIDS-Hilfe bezogen stellt sich mir das rki als – im übertragenen Sinne – Ratsuchender dar, der von mir/bzw. der EKAF eine 100%ige Sicherheit haben will. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist dies absolut korrekt und nicht zu beanstanden. Wie so oft bei HIV – und im Leben – gibt es diese 100%ige Sicherheit aber nicht.

Unberücksichtigt – weil (noch?) nicht-wissenschaftlich untermauert – bleiben vom rki Erfahrungswerte, die sich auf die über einen längeren Zeitraum weltweit gewonnenen Beobachtungen stützen, welche Schlussfolgerungen zulassen, die dann von Ärzten und Beratern als Aspekt in die praktischen Beratung mit einfliessen.

In der Einschätzung von Infektionsrisiken stelle ich dem theoretisch denkbaren Infektionsrisiko die weltweite Erfahrung von Ärzten, Fachkräften und AIDS-Aktivisten aus 25 Jahren AIDS-Beobachtung gegenüber. Zwischen dem theoretischen Risiko und dem praktischen Risiko vollziehe ich bei der Beurteilung einer möglichen Risikosituation eine Abwägung. Nichts anderes tut die EKAF. Würden wir uns in den AIDS-Hilfen so verhalten wie das rki, hätten wir ein Problem, lebenspraktische Beratung zu leisten.

In diesem Sinne entspricht das EKAF-Papier auch meinem/unserem bisherigen Vorgehen in der AIDS-Beratung:

  • Wir geben keine 100%ige Sicherheit, wo sie nicht ganz klar gegeben ist.
  • Wir geben aber zusammen mit Informationen (auf der Grundlage des aktuellen Wissensstandes) eine Einschätzung ab, und
  • Wir überlassen es der persönlichen Entscheidung des Individuums, wie es sein persönliches Risikomanagement daraufhin betreibt.

Diesen Alltagssituationen im Leben mit HIV bleiben Kritiker, die sagen, es sei nicht verantwortlich, dass die EKAF ihre Stellungnahme veröffentlicht hat, eine Antwort schuldig, indem diese sich unangreifbar in den Turm der Wissenschaft zurückziehen und sich dem lebendig gelebten Leben nicht stellen. Es mag sein, dass diese Antwort zu geben auch nicht Aufgabe einer Einrichtung wie des Robert-Koch-Instituts ist.

Umso mehr erwarte ich mit Spannung die noch ausstehende Pressemitteilung der Deutschen AIDS-Hilfe, von der ich als Interessensvertretung der Menschen mit HIV und AIDS die besondere Bedeutung der von der EKAF benannten und schon länger bekannten Beobachtungen für die Lebensqualität von HIV-Positiven erwarte.

Mir ist bewusst, dass die Impulse, die von der Veröffentlichung der EKAF ausgehen, vielfältig sind. Eine umfassende Auseinandersetzung mit allen Einzelaspekten des Statements der EKAF würde diesen eh schon langen Blogbeitrag sprengen. Mein erstes Anliegen ist es, auch auf dieser Kampagnenseite die Veröffentlichung der EKAF zur Kenntnis zu geben.

Noch einmal die dringende Bitte:

  • Leser sollten diese Veröffentlichung der EKAF ebenso sorgfältig wie aufmerksam lesen.
  • Jedes Wort dort hat Gewicht.
  • Die Botschaft der EKAF gilt nur in ihrer Gesamtheit.

Einen besonders herzlichen Dank an Prof. Pietro Vernazza und die Mitglieder der EKAF für ihren mutigen Schritt, eine längst überfällige Diskussion anzustoßen.

2 Responses to HIV-Infektiosität – kann eine wirksame antiretrovirale Therapie in Partnerschaften das Kondom ersetzen?

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